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Alissa 4 - Die letzte Wahrheit

Alissa 4 - Die letzte Wahrheit

Titel: Alissa 4 - Die letzte Wahrheit
Autoren: Dawn Cook
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    – 1 –
     

    D as halbe Dutzend Hühnereier in ihren lächerlich langen, klauenartigen Fingern drohte abzurutschen. Alissa hielt sie dicht an ihre Brust, denn sie würde sie niemals auffangen können, ehe sie auf dem Boden aufschlugen, nicht einmal aus dieser Höhe. Sie warf einen raschen Blick nach unten. Die höchsten Felsspitzen der Berge glitten lautlos unter ihr hinweg, grau im Licht des frühen Morgens. Mit der Sonne stieg auch der Nebel auf und erschuf ein Flickenmuster unter ihr – tiefer gelegene Landschaften blitzten unter flachen weißen Wolken hervor, und hohe Berggipfel ragten darüber scharf in die klare Luft auf.
    Die feuchte Luft schien ein wenig an ihr zu kleben, die Brise zupfte im Flug an ihr, und Alissa spürte, wie sich ihre Nickhaut, das zweite Augenlid, gegen den Wind schloss. Es war Frühling, und sie war rastlos. So gut hatte sie sich die ganze Woche lang nicht gefühlt – sie flog gen Westen, und die aufgehende Sonne ließ den Schatten ihrer fledermausartigen Flügel über den Boden gleiten, wo er hier und da Wild oder Ziegen in Panik versetzte.
    Heute Morgen, bevor die Sterne erloschen waren, war sie über die Berge zum verlassenen Hof ihrer Mutter im Vorgebirge geflogen, unter dem Vorwand, die Eier der verbliebenen Hühner sammeln zu wollen. In Wahrheit wollte sie nachsehen, ob der Schnee geschmolzen war und die Pässe offen. Das waren sie, zu Alissas größter Freude. Jetzt konnte sie Nutzlos vielleicht überreden, sie losziehen und nach ihrer Mutter suchen zu lassen.
    Nutzlos – oder Talo-Toecan, wie alle anderen ihn richtigerweise nannten – hatte in seiner verschlagenen Klugheit entschieden, dass Alissa, da sie im Hochland aufgewachsen war, sich auch in allen Fragen der Hochzeit an die Traditionen des Hochlands zu halten habe. Ihre Mutter musste einem Mann, der um Alissa warb, ihre Gunst zeigen, ehe sie ihn heiraten durfte. Doch ihre Mutter war in ihre Wüstenheimat im Tiefland zurückgekehrt und hatte nur eine von Tränen verschmierte Nachricht auf dem Kaminsims zurückgelassen.
    Alissa wusste, dass Nutzlos sich keinen Deut um die Traditionen des Hochlands scherte. Er nutzte lediglich die Situation aus, um Strell und Lodesh auf Abstand zu halten, in der Hoffnung, dass Alissa das Interesse an ihnen verlieren und ihre Aufmerksamkeit einem Partner zuwenden würde, der ihrem neuen Stand als Meisterin angemessener war. Nutzlos’ Winkelzüge führten jedoch nur dazu, dass Alissa umso wilder entschlossen war, einen von den beiden zu heiraten. Es blieb jedoch die Frage, welchen.
    Langsam glitt sie in den morgendlichen Aufwinden auf die Feste zu. Die Energie der emporsteigenden Luftströmungen zeichnete aufwallende Wolken dunkleren Blaus vor den makellosen Himmel, die sie mit ihren Raku-Augen sehen konnte. Zu ihrer Rechten verströmte eine steile Felswand einen stetigen Strom violetter, wirbelnder Hitze. Alissas Magen zog sich zusammen, als sie sich unwillkürlich darauf zu neigte.
    »Möchtest du noch einmal versuchen, darin aufzusteigen?«, drang ein Gedanke in ihren Geist, der ihr eigener war und doch wieder nicht. Das war Bestie, und Alissa verzog das Gesicht.
    »Nein«, antwortete Alissa gedehnt in ihren Gedanken, und es war ihr peinlich, dass Bestie auch nur danach fragte. »Mach du das.«
    »Du musst fliegen lernen«, mahnte ihr Alter Ego.
    » Und du musst lernen, in deinem eigenen Beet zu jäten.«
    Bestie gab die Kontrolle über ihren gemächlichen Gleitflug einfach ab. Alissa sah sich plötzlich allein für ihre Fortbewegung verantwortlich und geriet in Panik. Ihr Flug stockte. Einen Herzschlag lang hingen sie fast reglos in der Luft. Sie schlug verzweifelt mit den Schwingen, und sie stürzten ab.
    Mit einem schnaubenden Lachen übernahm Bestie wieder die Kontrolle und fing ihren Sturz in einem eleganten Bogen ab.
    Alissas Schwanzspitze streifte den Wipfel einer taufeuchten Tanne. »Zu Asche sollst du verbrannt sein!«, rief sie in ihren geteilten Geist und hielt die Eier fest umklammert, während ihr rasender Herzschlag sich allmählich beruhigte. »Lass das!«
    Bestie wandte sich ihr in Gedanken zu und vermittelte ihr den Eindruck eines selbstgefälligen Lächelns.
    Alissa blickte unter sich und erschauerte. Sie wusste aus Erfahrung, wie hart der Boden war, wenn man bei dieser Geschwindigkeit darauf niederkrachte. »Ich war den ganzen Winter über auf der Feste eingesperrt«, dachte sie und ließ Bestie eine Spur ihrer Traurigkeit spüren. »Nun, da die Pässe wieder
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