Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
0230 - Im Land der Unheils

0230 - Im Land der Unheils

Titel: 0230 - Im Land der Unheils
Autoren: Wolfgang E. Hohlbein
Vom Netzwerk:
Manchmal waren Schritte zu hören; langsame, schwere Schritte, die sich der Tür näherten, einen Herzschlag lang verharrten und sich dann genauso langsam wieder entfernten. Von irgendwoher kam leise, quäkende Musik aus einem billigen Kofferradio, dann und wann von der Stimme eines Ansagers unterbrochen, ohne daß man die Worte hätte verstehen können, und von Zeit zu Zeit trug eine Windböe die murmelnden Geräusche der nahegelegenen Stadt mit sich.
    Der Mann auf dem Bett regte sich. Seine Hände zuckten, führten nervöse, zupackende Bewegungen aus und erstarrten dann wieder. Wären nicht dann und wann diese unbewußten Bewegungen gewesen, hätte man den Mann für tot halten können. Er lag ausgestreckt auf der schmalen Pritsche, mit geschlossenen Augen und starrem, wachsbleichem Gesicht. Er hätte vierzig sein können, aber genausogut siebzig oder hundert. Seine Wangen waren eingefallen, die Haut dünn und trocken wie altes Pergament und die Hände so abgemagert, daß sie eher an die Fänge eines Raubvogels erinnerten als an menschliche Hände. Er war seit mehr als einem halben Jahr hier, ohne daß sich an seinem Zustand etwas geändert hätte. Ärzte und Psychologen hatten ihn untersucht, ohne zu einem Ergebnis zu kommen. Der Mann war gesund, körperlich wenigstens. Er aß, verrichtete die notwendigen körperlichen Bedürfnisse und antwortete, wenn man ihn ansprach.
    Aber das war auch alles.
    Die Pfleger hatten sich im Laufe der Zeit an den Anblick gewöhnt, und die Kalfaktoren, die dreimal am Tag das Essen brachten, zuckten nicht mehr zusammen, wenn der lebende Leichnam die Augen öffnete und mit zitternden, unsicheren Bewegungen nach seinem Teller griff. Und auch die übrigen Patienten betrachteten ihren seltsamen Gefährten, der sein Zimmer nie verließ und an keiner der Veranstaltungen, die das trostlose Leben in der Nervenheilanstalt auflockern sollten teilnahm, mittlerweile als harmloses, wenn auch etwas unheimliches Unikum.
    Der Mann stöhnte.
    Es war ein leises, kaum wahrnehmbares Geräusch, das irgendwo tief aus seiner Brust kam. Ein dünner Speichelfaden lief aus seinem Mundwinkel. Seine Stirn glänzte vor Schweiß, und die Augäpfel hinter den geschlossenen Lidern führten schnelle, ruckhafte Bewegungen aus. Äußerlich mochte er ruhig erscheinen, aber hinter seiner Stirn tobte ein fürchterlicher Kampf.
    Seit zwei Jahren war er gefangen, seit einem halben Jahr hier, in der psychiatrischen Abteilung, und während all dieser Zeit hatte er ausschließlich an zwei Dinge gedacht. Den Mann, der ihn hierhergebracht hatte, dem er seine Niederlage und sein Martyrium zu verdanken hatte -und seiner Rache.
    Selbst jetzt, nach all dieser Zeit, dachte er an nichts anderes, und das einzige Gefühl, das er verspürte, war Haß. Es war sein größter Kampf gewesen, ein ehrgeiziges Unternehmen, jahrzehntelang geduldig vorbereitet, ein Schlag, der ihm die absolute Macht verschafft hätte.
    Aber er hatte verloren.
    Ein normaler, sterblicher Mensch hatte ihn besiegt, hatte seine Träume von Macht, absoluter Macht, zerstört und ihn selbst einsperren lassen. Seitdem konzentrierte er sich nur noch auf eines:
    Rache…
    Er war ein Wrack, nicht mehr als ein Schatten seiner selbst, aber in ihm war noch etwas von der Macht, eine winzige Spur der alten dämonischen Kraft, die der andere nicht hatte auslöschen können. Ein letztes Reservoir, aus dem er noch Kraft schöpfen konnte. War es aufgebraucht, würde er sterben, endgültig.
    Der Mann stöhnte erneut. Seine Glieder begannen wie unter Krämpfen zu zucken, und seine Brust hob und senkte sich in raschen, hektischen Stößen. Aber er gab nicht auf. Seine Gedanken konzentrierten sich auf einen winzigen, imaginären Punkt in seinem Inneren, jenem Punkt, auf den er seit zwei. Jahren jedes bißchen Kraft, das er aufbringen konnte, gelenkt hatte.
    Das Tor! Er mußte das Tor schaffen!
    Seit Monaten versuchte er verzweifelt, die kümmerlichen Reste seiner parapsychologischen Kräfte zu sammeln, um ein letztes Mal Verbindung zu jener fremden, tödlichen Dimension zu schaffen, aus der er Zeit seines Lebens geschöpft hatte. Er wußte, welchen Preis er würde zahlen müssen, wenn es ihm gelang. Er hatte nicht mehr die Kraft, sich selbst zu halten. Wenn er das Tor diesmal öffnete, würde sein Geist vollends hinübergleiten in jene dämonische Dimension. Und er wußte auch, welches Schicksal ihm bevorstand, wenn er sich freiwillig in ihre Hände begab. Aber es war ihm egal. Er wollte
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher