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Tanz mit mir - Roman

Tanz mit mir - Roman

Titel: Tanz mit mir - Roman
Autoren: Lucy Dillon Sina Hoffmann
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Angelica Andrews, die die British Open Ballroom Dancing 1974, 76, 77 und 78 sowie die British Ten-Dance Championships 1977 gewonnen und als Finalistin an den European Ballroom Dancing Championships so oft teilgenommen hatte, dass sie die Male kaum noch zählen konnte, brauchte sich nicht um rostige Schlüssel oder Schlösser zu kümmern.
    Selbst ohne die perlenbesetzten Turnierkleider und den schwarzen Eyeliner gehörte Angelica nicht zu der Sorte Frau, die sich die Türen selbst öffnen muss. Für gewöhnlich nahm ihr ein Mann diese Aufgabe ab, der sich schier überschlug, damit sie ungehindert hindurchrauschen konnte. Heute allerdings war weit und breit kein Mann in Sicht. Außerdem öffnete der Schlüssel, mit dem sie im Schloss herumstocherte, nicht nur eine simple Tür, von der die Farbe abblätterte, sondern vielmehr die Tür zu ihrer Kindheit – bevor sie tanzen konnte, bevor sie schön war, ja bevor sie überhaupt »Angelica« war.
    Dies war ganz gewiss kein Augenblick, in dem ihr eine Begleitung angenehm gewesen wäre. Daher biss sie die Zähne in einsamer, aber majestätischer Erhabenheit zusammen und rüttelte am verrosteten Türschloss der Longhampton Memorial Hall.
    »Verdammt!«, fauchte sie, als ihr dabei ein dunkelrot lackierter Nagel einriss. Mrs. Highams Aussage zufolge, die gut und gerne dem ersten Kuratorium der Memorial Hall
von 1921 angehört haben könnte, musste man für das Schloss »ein wenig Geschick« haben. Wie dieses »Geschick« aussehen sollte, hatte sie aber leider nicht näher beschrieben. Mrs. Higham hatte ihr den Schlüssel mit argwöhnischer Miene überreicht, obwohl Angelica nicht nur über die Erlaubnis verfügte, am folgenden Abend einen Tanzkurs zu leiten, sondern sich auch noch sehr lebhaft daran erinnern konnte, wie Mrs. Higham vor fünfzig Jahren immer ihre segelohrige Tochter Vanessa vom Tanzunterricht abgeholt hatte. Schon damals hatte sie stets den Eindruck erweckt, außergewöhnlich argwöhnisch zu sein.
    »Du bist also zurück, Angela«, hatte sie mit einer erbitterten Genugtuung festgestellt, als Angelica unterschrieben hatte. Es klang, als hätte sie dreißig Jahre lang darauf gewartet, sie mit diesen Worten zu begrüßen.
    Angelica hatte sich vergewissert, dass sie mit »Angelica Andrews« und nicht »Angela Clarke« unterzeichnet hatte. Sie war zwar zurückgekehrt, aber sie war nicht mehr die gleiche Person wie früher.
    In einem letzten Anlauf, der einen feinen Staubschleier auf ihrer edlen Wolljacke zurückließ, schaffte sie es endlich, die schwere Eingangstür aufzustoßen, und betrat den gefliesten Vorraum. Hier hatte sich nichts verändert. Seit sie wieder nach Longhampton gezogen war, hatte sie ein paar Mal die freitäglichen Tanzabende besucht, doch da war die Halle mit Menschen gefüllt gewesen; mit modernen Menschen, die das Gebäude fest an die Gegenwart knüpften. Jetzt jedoch war sie allein hier und hatte das Gefühl, sich auf eine Zeitreise in die Vergangenheit zu begeben – in ihre Vergangenheit, die im Inneren des Tanzsaals ungeduldig mit den Fingern trommelte und sie mit einigen Erinnerungen in sprödem Schwarz-Weiß, anderen wiederum im knalligen Farbglanz der Achtzigerjahre erwartete.
    Angelica schloss die Augen und atmete den Geruch ein, der
sie mit einem Schlag in die Fünfziger- und Sechzigerjahre zurückversetzte: Bohnerwachs und Holzvertäfelung, Schmutz und Staub von der Straße, die sich im Laufe von Dekaden festgetreten hatten. Wenn man das Licht herunterdimmte und einen Langsamen Walzer auflegte, hatte Angelica in der Memorial Hall schon immer das Gefühl gehabt, in eine andere Zeit versetzt zu werden.
    Genau wie jetzt, dachte sie und lauschte dem sachten Scheppern der uralten Rohrleitungen. Fast spürte sie die weiten Satinröcke im Dunkeln vorbeirauschen, und in jedem Knarren der hölzernen Dachbalken schwang ein »Darf ich bitten?« mit, das als Echo aus den düsteren Dreißigerjahren widerhallte.
    Angelica öffnete wieder die Augen und ließ den Blick über die Eichenholztafeln wandern, die an die Bewohner Longhamptons erinnerten, die im Krieg gefallen waren, über die geschwungenen Schmuckschnitzereien und Knäufe sowie über den Fries aus gemalten Moriskentänzern und Tänzerinnen in festlichen Gazekleidern, die mittlerweile verblasst waren wie alte getrocknete Blüten. Das Fensterglas in den Türen, die den Vorraum mit dem Haupttanzsaal verbanden, war von Spinnweben überzogen. Obwohl der Saal immer noch genutzt wurde, schien er
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