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0230 - Im Land der Unheils

0230 - Im Land der Unheils

Titel: 0230 - Im Land der Unheils
Autoren: Wolfgang E. Hohlbein
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ich wieder an die Arbeit.«
    Nicole schüttelte den Kopf und ging an Zamorra vorbei, während sie ernsthaft überlegte, ob sie sein Abendessen mit einer gehörigen Portion Schlafmittel versetzen sollte.
    ***
    Der Regen hatte am frühen Morgen aufgehört, und zum ersten Mal seit mehr als einer Woche war die Sonne durch die Wolken gebrochen. Gleichzeitig war es wärmer geworden. Der eisige, klamme Wind, der seit Wochen nahezu ununterbrochen geweht und das Land daran erinnert hatte, daß der Winter vor der Tür stand, war abgeflaut und hatte einer fast frühlingshaften Stimmung Platz gemacht.
    Helles Sonnenlicht flirrte in schrägen Streifen durch das schmale Fenster des Hotelzimmers. Irgendwo zwitscherte ein Vogel, und die Sonne tauchte die Dächer draußen in flimmerndes, goldenes Licht. Aber das Wesen, das das Zimmer bewohnte, hatte keinen Blick für dieses Naturschauspiel. Im ersten Augenblick hätte man es für einen Menschen halten können, aber dieser Eindruck hätte schon einer oberflächlichen Musterung nicht standgehalten. Vorhin, als es sich in der Rezeption des kleinen Hotels eingetragen hatte, hatte es das Aussehen eines etwas vierzigjährigen Mannes gehabt, aber hier, in der relativen Sicherheit des Zimmers, war diese Tarnung nicht mehr nötig. Es erinnerte immer noch vage an einen Menschen - es hatte Arme, Beine und einen Kopf, aber all dies war unfertig, roh, wie eine lebensgroße Statue aus Ton oder weichem Wachs, die noch nicht fertig modelliert worden war. Seine Proportionen waren entschieden kräftiger als die eines normalen Menschen, und die breiten, wuchtigen Hände hatten keine Finger, sondern lange, einwärts gekrümmte Scheren wie die einer übergroßen Krabbe. Das Gesicht war eine flache, konturlose Masse mit nur einem einzigen, glitzernden Auge und einem dünnen, geschlitzten Mund, in dem ein gräßliches Haifischgebiß glänzte.
    Der Dämon hatte eine von unzähligen Erscheinungsformen angenommen, in denen er auftreten konnte. Eine Form, die dieser Welt angemessen schien, nicht viel mehr als ein Rohling, aus dem er sich blitzschnell in jede beliebige Person verwandeln konnte. Er saß ruhig auf seinem Stuhl, bewegte von Zeit zu Zeit Arme und Beine und stieß manchmal ein tiefes, mühevolles Stöhnen aus. Die Umstellung, in dieser anderen, für ihn fremden Welt zu existieren und zu handeln, fiel ihm schwer. Aber sein Körper begann bereits, sich anzupassen. In wenigen Stunden würde er sich so frei und ungezwungen in dieser Welt der Menschen bewegen können, als wäre er hier geboren und aufgewachsen. Er fühlte schon jetzt, wie seine Kraft wuchs, wie sich sein Metabolismus auf die veränderten Umweltbedingungen einstellte und sein Körper langsam all jene Sinne und Fähigkeiten ausbildete, die es dem Menschen gestatteten, seine Welt zu beherrschen.
    Er stand auf, tapste schwerfällig zum Fenster und sah hinaus. Sein Auge war groß und pupillenlos, ein zerfranstes Loch, in dem dunkles Blut kochte und brodelte, ein bodenloser See, in dem die Erfahrungen eines Wesens geschrieben stand, das in Jahrhunderttausenden zu rechnen gewohnt war. Es hatte Welten entstehen und wieder untergehen sehen. Nach menschlichen Maßstäben war es unsterblich.
    Er betrachtete neugierig die winzigen- mit hektischen Bewegungen hin- und herflitzenden Gestalten unten auf der Straße. Er war noch nicht lange in dieser Dimension, doch das Wenige, was er bisher über die Menschen in Erfahrung gebracht hatte, hatte seine vorgefaßte Meinung gefestigt. Die Menschen mochten schwach und als Einzelwesen betrachtet nicht einmal sonderlich intelligent sein, aber sie waren trotzdem gefährlich.
    Wenn auch nicht für ihn.
    Er hatte den Großteil seiner Macht eingebüßt, als er durch das Dimensionstor auf diese Ebene übergewechselt war, aber der verbliebene Rest reichte immer noch, um mit ihnen fertig zu werden.
    Er drehte sich um, stapfte durch den Raum und betrachtete die schäbige Einrichtung. Alles, womit die Menschen sich umgaben, konnte wichtig sein.
    Wäre er dazu in der Lage gewesen, hätte er vielleicht gelächelt. Er hatte bereits zu seinem ersten Schlag ausgeholt, noch bevor er sein Opfer überhaupt zu Gesicht bekommen hatte. Der Tod war bereits in Zamorras Haus, lauerte hinter der Maske des Ungefährlichen, ja Albernen. Zamorra hatte es nur noch nicht bemerkt.
    Aber er würde es merken.
    Bald.
    Sehr bald…
    Der Dämon drehte sich abermals herum und ging mit wiegenden Schritten zu dem kleinen Tischchen neben der Tür
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