Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Medicus 02 - Der Schamane

Titel: Medicus 02 - Der Schamane
Autoren: Noah Gordon
Vom Netzwerk:
Erster Teil
  
Die Heimkehr
  
22. April 1864

Jiggety-Jig
    Die Spirit of Des Moines schickte ihr Signal voraus, als sie sich in der morgendlichen Kühle dem Bahnhof von Cincinnati näherte. Shaman spürte zuerst ein schwaches, kaum wahrnehmbares Vibrieren des hölzernen Bahnsteigs, dann ein deutliches Zittern und schließlich eine kräftige Erschütterung. Plötzlich war das Ungetüm da mit seinem Geruch nach heißem, öligem Metall und Dampf. Im fahlgrauen Zwielicht brauste es auf ihn zu, Messingarmaturen glänzten auf dem schwarzen Drachenkörper, mächtige Kolbenarme bewegten sich rhythmisch, und eine helle Rauchwolke stieg himmelwärts wie die Fontäne eines Wals und löste sich schließlich in zerfasernde Fetzen auf, als die Lokomotive langsam zum Stehen kam.
    Im dritten Waggon waren nur noch wenige der harten, hölzernen Sitzplätze frei, und er nahm auf einem von ihnen Platz, während der Zug erzitterte und wieder anfuhr. Züge waren noch immer etwas Neues, aber sie bedeuteten auch, dass man mit zu vielen Leuten reisen musste. Er zog es vor, allein und gedankenverloren auf einem Pferd zu reiten. Der lange Waggon war brechend voll mit Soldaten, Handlungsreisenden, Farmern und Frauen, von denen einige kleine Kinder dabei hatten. Das Kindergeschrei störte ihn überhaupt nicht, aber der Waggon roch nach einer Mischung aus säuerlich stinkenden Socken, dreckigen Windeln, schlechter Verdauung, verschwitzten, ungewaschenen Körpern und dem Mief von Zigaretten und Pfeifen. Das Fenster schien als Kraftprobe gedacht zu sein, aber Shaman war groß und stark, und es gelang ihm, es zu öffnen, was sich allerdings schnell als Fehler herausstellen sollte. Die mächtige Lokomotive drei Waggons weiter vorne stieß nicht nur Rauch, sondern auch ein Gemisch aus Ruß, glimmenden oder erloschenen Kohlestückchen und Asche aus, das der Fahrtwind nach hinten und zum Teil auch durch das offene Fenster in das Abteil wehte. Bald hatte ein glühender Funke in Shamans neues Jackett ein Loch gebrannt. Hustend und verärgert murmelnd stieß er das Fenster wieder zu und klopfte seine Jacke ab, bis der Funke erloschen war. Eine Frau auf der anderen Seite des Mittelgangs sah ihm zu und lächelte. Sie war etwa zehn Jahre älter als er und modisch, aber für die Reise praktisch gekleidet. Ihr graues Wollkostüm hatte einen lose fallenden Rock ohne Reifen und war von Paspeln aus blauem Leinen eingefasst, die das Blond ihrer Haare betonten. Die Augen der beiden trafen sich einen Augenblick lang, doch dann konzentrierte sich die Frau wieder auf das Handarbeitsschiffchen in ihrem Schoß. Shaman wandte sich ohne Bedauern von ihr ab; die Trauer war nicht die rechte Zeit für das Spiel zwischen Männern und Frauen. Er hatte sich ein wichtiges neues Buch zum Lesen mitgenommen, doch so sehr er auch versuchte, sich darin zu vertiefen, seine Gedanken wanderten immer wieder zu Pa.
    Der Schaffner hatte sich im Mittelgang bis zur Bank hinter Shaman vorgearbeitet; doch der bemerkte ihn erst, als der Mann ihm die Hand auf die Schulter legte. Er schreckte hoch und starrte in ein gerötetes Gesicht. Der Schnauzbart des Schaffners endete in zwei gewachsten Spitzen, und sein ergrauender rötlicher Kinn- und Backenbart gefiel Shaman, weil er den Mund frei ließ. »Sind wohl taub«, sagte der Mann gutmütig. »Ich hab’ Sie schon dreimal nach Ihrer Fahrkarte gefragt, Sir.«
    Shaman lächelte ihn ohne Verlegenheit an, denn so etwas passierte ihm immer und immer wieder. »Ja, ich bin taub«, sagte er und gab dem Schaffner die Fahrkarte.
    Shaman sah, wie sich vor dem Fenster die Prärie ausbreitete, doch der Anblick fesselte ihn nicht. Die Landschaft hatte etwas Monotones, und außerdem raste der Zug so schnell an ihr vorbei, dass einem die Einzelheiten kaum ins Bewusstsein dringen konnten. Am besten reiste man zu Fuß oder zu Pferd - wenn man dann an ein hübsches Fleckchen kam und hungrig war oder pinkeln musste, konnte man einfach stehenbleiben und sein Bedürfnis befriedigen. Kam ein Zug an ein solches Fleckchen, rauschte es nur verschwommen an einem vorbei. Das Buch, das er dabei hatte, hieß »Lazarett-Skizzen« und stammte aus der Feder einer gewissen Louisa Alcott aus Massachusetts, die seit Beginn des Krieges Verwundete pflegte und deren Schilderungen des Leids und der entsetzlichen Zustände in den Lazaretten in Medizinerkreisen für große Aufregung gesorgt hatten. Als er jetzt darin blätterte, wurde er noch trauriger, denn er musste dabei daran
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher