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Zwölf im Netz

Zwölf im Netz

Titel: Zwölf im Netz
Autoren: Adalbert Seipolt
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ins Evangelium aufzunehmen, auch nicht in gekürzter Form. Die Leser würden sich ans Hirn langen und fragen: Wie ist es möglich, daß ihr zwölf den Meister so mißverstanden habt, oder richtiger: nur halb verstanden habt? Tagaus, tagein wart ihr mit ihm zusammen, fast ein ganzes Jahr, habt hundert Predigten von ihm gehört und mindestens drei Ankündigungen seines Leidens und Sterbens. Das kann doch nicht an vierundzwanzig Ohren vorübergerauscht sein wie ein geometrischer Lehrsatz. Soll ich Ihnen die einschlägigen Stellen aus Ihrem Buche zitieren?«
    »Lieber nicht«, wehrte Johannes ab, »sonst muß ich mich nachträglich doppelt schämen. Poly, wir vernahmen seine düsteren Weissagungen mit den Ohren, doch unser Herz wollte sie nicht wahrhaben. Es erging uns ähnlich wie manchen Hochzeitsgästen, wenn beim Festmahl das Gerücht die Runde macht, das Brautpaar passe eigentlich gar nicht zusammen, die Ehe gehe bestimmt bald in die Brüche. Da stemmt sich auch das Gefühl gegen das, was ins Gehör dringt. Noch etwas anderes solltest du bedenken: Wir mußten wahrscheinlich durch dieses Tal der schönen Täuschungen und der schrecklichen Enttäuschung hindurch. Wären wir dem Meister auf seinem Weg gefolgt, wenn wir am Ende dieses Weges den Galgen von Golgotha gesichtet hätten? Mit einer Horrorvision von Folter, Kerker und Kreuzigung kann niemand junge Menschen begeistern.«
    »Da gebe ich Ihnen recht«, sagte Polykarp. »Wenn mir jemand sagt: Komm mit mir, dann wirst du gerädert, gefoltert und von Löwen zerfleischt, gehe ich sogar lieber weiter zur Schule. Aber wenn ihr genau hingehört hättet, mußtet ihr wissen, daß Golgotha nicht das Ende war.«
    »Was hätten wir nicht alles wissen müssen! Aber sein Tod am Kreuz, der war auch das Ende für uns, der völlige Zusammenbruch. Es war eine qualvolle Situation. Wir hatten uns buchstäblich verkrochen, ausgerechnet in demselben Saal, der noch erfüllt war von den letzten Erinnerungen an ihn. Wer hätte geahnt, daß sein Liebesmahl die Totenfeier unserer Gemeinschaft wart Wir hatten die Tür fest von innen verriegelt, die schweren Vorhänge zugezogen. Wir ertrugen kein Licht mehr. Auch das Feuer im Kamin war niedergebrannt, alle Glut erloschen. Kälte drang durch die dünnen Mäntel und Decken, in die wir uns gewickelt hatten, um eine Art Schlaf zu finden oder wenigstens die Scham voreinander zu verbergen. Jeder einsam für sich. In die finsterste Ecke hatte sich Simon Petrus geworfen; noch wußte keiner von uns, warum er doppelten Grund zu Selbstvorwürfen hatte. Ich kauerte vor dem Kamin und stocherte in der Asche umher. Bei federn Geräusch von der Straße schrak ich auf. Die Gefahr, daß auch wir verhaftet und vor den Hohen Rat geschleppt wurden, war keineswegs vorüber. Die Sabbatruhe bot uns kurze Schonzeit. Danach würden sie uns suchen. Wir mußten schleunigst verschwinden, aber wohin! Zu einem sinnvollen Entschluß war keiner von uns fähig. Auf irgendwelchen Schleichwegen nach Galiläa flüchten, war unser dumpfer Wunsch. Den Empfang daheim wagte sich keiner auszumalen, den Hohn der Pharisäer, den Spott der Nachbarn, die das Scheitern des Meisters schon immer vorausgesehen hatten, die Enttäuschung der Freunde. Zeitlebens würden wir als Narren und Phantasten gelten, die einem Scharlatan aufgesessen waren. Der Saalvermieter teilte uns noch am Abend mit, Pilatus habe befohlen, das Grab zu bewachen, angeblich um den Diebstahl der Leiche zu verhindern. Der Zelot hatte nur bitter aufgelacht. Die glauben wohl, wir transportieren eine Leiche im Marschgepäck nach Galiläa! Wir anderen sagten nichts und nahmen die Nachricht stumm entgegen.«
    »Aber das Erdbeben bei seinem Tod, die Verfinsterung der Sonne, das Auf springen der Gräber! Sogar für den römischen Hauptmann war es ein Gottesbeweis.«
    »Für uns unterstrichen diese schrecklichen Naturereignisse nur sein letztes Wort am Kreuz: Es ist vollbracht! Im Klartext: Es ist alles aus! Der Stein vor dem Grab wog tausendmal schwerer als jede Hoffnung. Der Stein war Tatsache, alles andere Illusion. Die letzte Nachricht, die aus der Außenwelt zu uns drang, löste den letzten Wortstreit unter uns aus: der Selbstmord des Judas Iskariot. Der Zelot hielt ihn für die einzig mögliche Konsequenz. Natanael behauptete, Judas von Anfang an mißtraut zu haben. Auch Thomas hatte ihn angeblich immer als Fremdkörper in unserer Gemeinschaft empfunden. Levi widersprach ihnen heftig. Judas, sagte er, sei es nur zu langsam
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