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Zwölf im Netz

Zwölf im Netz

Titel: Zwölf im Netz
Autoren: Adalbert Seipolt
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gegangen mit dem messiani-schen Reich; er habe Jesus zur Entscheidung zwingen wollen und deshalb die Soldaten zum Ölberg geführt. Keiner sollte sich anmaßen, einen Stein auf ihn zu werfen; schließlich habe jeder von uns den Meister verraten. Wir verstummten. Levi hatte recht. Alle waren wir feige geflüchtet, alle hatten wir uns aus Angst verkrochen. Auf dem Kreuzweg hatten ihn nur die Frauen begleitet und das Mädchen Veronika. «
    »Aber Sie standen doch auch unter dem Kreuz, Johannes. «
    »Ja, doch das machte jetzt alles nur noch schlimmer. Ich konnte die furchtbaren Bilder nicht aus meiner Seele verbannen: wie sie Jesus an den Balken festnagelten und hochzerrten, wie das Blut immer mehr aus seinem Körper wich, der Soldat ihm schließlich die Lanze in die Seite stieß und Blut und Wasser heraustropfte. Mir gellte noch immer Jesu Todesschrei in den Ohren, noch klebte an meinen Fingern der kalte Schweiß seines ausgebluteten, entseelten Körpers, als wir ihn vom Kreuz abnahmen und in Tücher wickelten. Und trotzdem, kaum schloß ich die Augen, glaubte ich seine Hand auf der Schulter zu spüren und hörte seine Stimme: Komm und sieh, ich lebe doch! Aber mein Blick fand nichts als tote Asche.
    Graues Licht sickerte durch die schweren Vorhänge, der Morgen des ersten Wochentags brach herein. Doch wer merkte das von unsI Wir lagen wie erstarrt, die Gesichter auf den Boden gepreßt. Wir rechneten mit allem, nur nicht damit, daß das Licht schon seine Strahlen sammelte, um das Netz der Finsternis zu zerreißen. Plötzlich zuckte ich zusammen. Rüttelte da nicht jemand an der Tür! Das mußten Fremde sein. Mit dem Besitzer des Saales hatten wir ein dreimaliges Klopfen als Zeichen verabredet. Das Rütteln ließ nicht nach, wurde immer heftiger. Jeder mußte es hören. Simon Petrus richtete sich gespannt auf, andere wühlten sich noch tiefer in die Decken, zogen sie über den Kopf. Das Rütteln folterte meine Nerven, ich hielt es nicht mehr aus, hastete zur Tür, spähte durch einen Schlitz und erkannte ein schwarzes Gewand, wie es Frauen in Trauer trugen. Vorsichtig schob ich den Riegel zurück, öffnete die Tür nur einen daumenbreiten Spalt, breit genug, um das von Tränen entstellte Gesicht der Maria von Magdala zu erkennen.
    >lhr müßt helfen, schnell<, flüsterte sie erregt, >man hat uns den Meister aus dem Grabe genommen, und wir wissen nicht, wohin.<
    Man hat uns den Meister genommen! Die Schreckensnachricht alarmierte alle im Saal. Während die anderen die Frau umringten und Einzelheiten wissen wollten, stürzten Simon und ich gleichzeitig zur Tür hinaus, durch den schmalen Gang auf die Gasse, die ins Freie führte, den Abhang des Zion hinab, durch Gestrüpp und Geröll, über Mauern und Gräben, den kürzesten Weg nach Golgotha, querfeldein im regelrechten Wettlauf.«
    »Und Sie gewannen, Sie kamen als erster ans Grab. Hier steht es geschrieben.« Poly entrollte den Schluß des Evangeliums: »Er beugt sich vor und sieht die Leinenbinden daliegen, hinein ging er jedoch nicht. Nun kam auch Petrus hinter ihm her und ging in das Grab und sah die Binden und das Schweißtuch, das auf seinem Kopf gelegen hatte; aber es lag nicht bei den Binden, sondern für sich gefaltet an einer besonderen Stelle. Hier merkt man deutlich den Augenzeugen, so präzise beschreiben sie selten nebensächliche Dinge. Daraufhin ging auch der andere Jünger, der zuerst zum Grabe gekommen war, hinein und sah und glaubte.«
    » Ja«, sagte Johannes, »und glaubt es bis heute.«

    Über der Bucht breitete sich schon die Helligkeit des jungen Tages aus. Der östliche Himmel überzog sich mit zarter Röte. Ein leichter Wind kam auf und weckte das spiegelglatte Wasser. Nicht lange mehr, und die Kraniche würden auf ihrem morgendlichen Flug vorüberziehen, die Reiher sich zur Jagd aufschwingen und das Geschnatter der Wasservögel die Stille zerstören.
    Poly verschnürte die Schriftrollen; er hatte Johannes versprochen, sie den Priestern der Gemeinde von Ephesus zur Aufbewahrung zu bringen. In der Hütte waren sie vor Dieben nicht sicher. Da spürte er auf einmal die Hand des Alten auf dem Arm.
    »Poly, einen Augenblick! Mach die letzte Rolle noch einmal auf! «
    »Aha, Sie haben also doch etwas vergessen.« Poly triumphierte. »Ich hatte es ja gleich geahnt. Was fehlt denn!«
    »Nur ein Kapitel, meine letzte Begegnung mit dem Herrn. « Poly nahm sein Schreibzeug wieder auf, schaute zum Himmel und meinte: »Wir müssen noch warten, bis es hell
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