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Wintermörder - Roman

Titel: Wintermörder - Roman
Autoren: Wilhelm-Goldmann-Verlag
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mehr als ein Schatten.
    Nein, sie täuschte sich nicht. Jemand stand vor dem Gartenhaus und schaute zu ihr herüber. Augenblicklich wurde ihr Körper steif vor Angst. Die Fingernägel gruben sich in die brüchige Haut ihrer Hände.
    Angst! Sie hatte sie nie geduldet. Sie würde sie auch heute nicht zulassen. Alles hatte mit dem Brand angefangen. Er hatte etwas angefacht, das sie glaubte vergessen zu haben. Es war nicht schwer zu erraten, wer dort stand. Sie war nicht dumm. Der Mann, der die letzten Monate diese Briefe geschrieben hatte. Sie hatte gedacht: Unverschämtheit, bodenlose Frechheit. Dann hatte sie sie verbrannt.
    Sollte sie die Polizei rufen? Da ist ein Mann in meinem Garten, der mich belästigt?
    Warum hatte sie die Pistole nicht hier?
    Ganz einfach:Weil sie sich unantastbar fühlte.
    Henriette drehte sich um und machte die Musik lauter.
    Tannhäuser sang für Venus.
… die Nachtigall hör ich nicht mehr, die mir den Lenz verkünde.
    Warum nur hatte sie ausgerechnet diese Oper gewählt?
    Zu viel Romantik, zu viel Liebe, zu viel ekelhafte Leidenschaft.
    Wieder erhob sie sich und trat zur Terrassentür. Die Gestalt wartete noch immer und starrte in ihre Richtung.
    Unverschämt!
    Das Licht! Sie sollte das Licht löschen!
    Doch stattdessen atmete sie tief durch.
    Die eiskalte Luft schlug ihr ins Gesicht, als sie die Tür öffnete. Sie würde der Sache ein für alle Mal ein Ende bereiten.
    Der Mann legte eine alte Ledertasche auf den Flügel. Ein ausgebeultes Ding, verdreckt, mit gerissenen Nähten.
    Er packte alles aus, sprach nicht viel, nur ab und zu sagte er »Da« oder »Hier«.
    Damals waren die Fotos nur Schnappschüsse gewesen und ohne Bedeutung. Den Großteil hatte sie vergessen, seit Jahren nicht mehr daran gedacht.
    Alles war so lange her.
    »Junger Mann«, sagte sie. Sie meinte nicht sein Alter, sondern seine Naivität. »Was Sie von mir wollen, werde ich Ihnen nicht geben. Es ist sinnlos, mir immer wieder diese Briefe zu schreiben, Fotos zu schicken oder eines dieser abscheulichen Dokumente, die Sie weiß Gott wo aufgetrieben haben. Fahren Sie nach Hause und vergessen Sie die Sache. Sie werden damit nicht durchkommen. Arbeiten Sie, wenn Sie Geld brauchen. Arbeit ist das Einzige, was hilft.«
    Sie saß in dem grauen Seidenkostüm vor ihm, bemüht, dieselbe Würde auszustrahlen wie hinter dem Schreibtisch.
    Nichts, nichts würde sie preisgeben! Die Spitze des Stockes stieß hart auf dem Parkett auf.
    »Lassen Sie mich in Ruhe!«
    Er zog das Foto eines hübschen, fröhlich lachenden Mädchens in einem Matrosenkleid hervor, das am Türrahmen eines Hauses lehnte.
    »Wer soll das sein?« Sie zwang sich zur Ruhe, doch das Zittern ließ sich nicht verbieten.
    »Kalt«, stellte der Mann fest. »Ihnen ist kalt, aber die Kälte hat gerade erst begonnen. Sie werden für den kümmerlichen Rest Ihres Lebens frieren.«
    Immer noch um Haltung bemüht, erhob sie sich. »Ich breche dieses Gespräch ab. Gehen Sie. Wenn ich Sie noch einmal auf meinem Grundstück sehe, werde ich die Polizei ver
    ständigen.«
    Er blieb sitzen.
    »Gehen Sie, oder ich rufe sofort die Polizei.«
    Wieder keine Reaktion.
    »Ich kenne dieses Mädchen nicht.« Verächtlich zuckte sie mit den Schultern.
    Bevor sie wusste, was geschah, holte er aus und schlug ihr mit der Hand ins Gesicht. Die Wucht des Schlages war stark. Sie spürte, wie der Kiefer brach, und konnte sich nicht auf den Beinen halten. Hart schlug der Kopf an der Marmorplatte des Tisches auf.
    Weit entfernt hörte sie Tannhäuser singen.
    Das Holz im Kamin hatte Feuer gefangen. Die Kälte wich, und sie fühlte sich plötzlich leicht.
    Sie sollte ihm dankbar sein, er ersparte ihr das lange Sterben.
    Doch er gab keine Ruhe.
    Sie wurde an den Füßen gezogen. Der Kopf schleifte auf dem Boden. Blut lief übers Gesicht, in die Augen. Es drang aus dem Mund. Die Hüfte stieß an den Fuß des Klaviers, und der Rock blieb hängen. Der Mann zog fester, bis der Stoff nachgab und zerriss.
    Vor der Terrassentür ließ er sie los.
    Hart fielen die Beine auf den Steinboden. Ein Krachen, als die Knochen splitterten. Der Schmerz war unerträglich. Er schob die Terrassentür auf. Wieder wurden die Füße hochgehoben. Mit einem Ruck zog er sie hinter sich her über die Schwelle nach draußen in die Kälte der Nacht, wo er sie wieder losließ. Erneut brachen die Knochen. Ein Geräusch, wie wenn Holz im Feuer bricht.
    Dann ließ er sie liegen, das Gesicht auf die eisigen Steine gepresst. Sie atmete
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