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Das Verheissene Land

Titel: Das Verheissene Land
Autoren: Andreas Bull-Hansen
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Frühling in Tirga
     
    D er alte Mann steht in der Höhle. Er stützt sich mit einer Hand an der Felswand ab, beugt sich vor und hustet. Es ist dunkel, und er wünscht sich eine Fackel, um mehr Licht zu bekommen. Doch Shian ist nicht gekommen und so richtet sich der Alte auf und tastet sich allein am Rand der Höhle entlang nach innen vor. Er blickt zu den Zeichen und Figuren auf, die in die Felswand geritzt sind. Einige von ihnen berührt er mit der Hand, denn er kann sie im Halbdunkel nur schwach erkennen. Murmelnd streicht er mit den Fingern über die Einkerbungen. Dann fasst er sich an seinen grauen Bart und hockt sich ganz hinten in der Höhle unter der niedrigen Decke hin. Es knirscht in seinen Knien, als er sich vorbeugt und die Bögen betrachtet, die in die Wand geritzt worden sind. Ganz oben in den Bögen erkennt er den Umriss vieler Männer. Sie erzählen ihm von der Zeit, als er mit seinem Bruder in dem Langschiff segelte. Er holt tief Luft, wischt sich die Wangen trocken und fährt mit der Hand über eine einsame Gestalt unmittelbar über den Langschiffen.
    »Bran.« Seine Stimme ist heiser und schwach. Er senkt den Kopf, während er seine Hand auf die Gestalt legt. Ein ganzes Leben scheint vergangen zu sein, seit er die Erinnerungen an seinen Bruder in die Wand geritzt hat. Doch er vermisst ihn noch immer.
    Der Alte lässt sich auf die Seite fallen, zieht die Knie unter sich und steht mit einem Stöhnen auf. Er fasst sich an die Brust und ringt nach Atem. Seine Rippen liegen schartig unter seinem Umhang und erinnern ihn an die Kämpfe seiner Jugend. Ein schmerzhafter Zug zeichnet sich auf seiner faltigen Stirn ab. Dann schlägt er den Umhang enger um sich und wendet der Höhlenwand den Rücken zu.
    Der alte Mann geht zur Höhlenöffnung. Er stellt sich an das Ende des flachen Steinbodens, der wie ein Vorsprung aus den sanft geneigten Talhängen herausragt. Ein Pfad windet sich durch das Gras nach unten und ein paar Pfeilschüsse weiter schlängelt sich der Fluss zwischen den Eichen hindurch. Er fließt nach Osten, ehe er wieder im Wald verschwindet. Der Wind weht jetzt aus Westen, und die Baumkronen beugen sich im frischen Wind. Die dicht belaubten Zweige flüstern von vergangenen Tagen.
    Da kommt ein Junge zwischen den Bäumen zum Vorschein. Barfuß stapft er vorsichtig durch das Wasser. Der Alte folgt ihm mit seinem Blick, und als der Junge die Hand hebt und ihn grüßt, lächelt er und nickt ihm zu. Dann richtet er den Blick auf die Berge im Westen. Wie eine Kette von Reißzähnen ragen die Klippen in den Himmel. Die Sonne ist bereits hinter ihnen versunken und liegt, rot wie Glut, hinter der Wolfsspitze. Die Eichen zeichnen lange Schatten auf den Boden.
    Der Alte schließt die Augen. Er genießt die kühle Brise, die ihm die Haare aus dem Gesicht weht. Er liebt den Wind, denn er bringt ihm die Erinnerungen und singt von fremden Ländern. Manchmal träumt er sich in seine Jugend zurück. Er sieht das Meer, hört das Geschrei der Möwen und spürt den Seegang in seinem Körper. Und da er ein alter Mann ist, rühren ihn diese Erinnerungen. Er denkt an seine Frau und spürt nichts als Sehnsucht.
    »Großvater!« Der Junge ruft ihn. Der Alte öffnet die Augen. Shian springt kraftvoll und ungestüm wie ein junges Pferd über den Pfad nach oben.
    »Komm hierher, Shian!« Er setzt sich an der Öffnung der Höhle hin und fordert sich selbst auf, nicht an traurige Dinge zu denken. Dann schweift sein Blick über die Pferde, die am Waldrand grasen, und er denkt an Met, Jagd und Frauen, um die tristen Gedanken zu vertreiben.
    So sitzt er da, als der Junge die letzten drei Stufen emporspringt, die vom Pfad zum flachen Höhlenboden hinaufführen. Shian trägt an diesem Abend einen ledernen Überwurf über den Schultern, als Schutz gegen den Wind. Der Alte zuckt zusammen, als der Junge sich neben ihm hinsetzt.
    »Shian!« Er fasst sich an die Brust. »Ich habe dich nicht gehört. Ich war ganz in Gedanken versunken.« Dann krümmt er seinen Rücken und hustet, lange und tief.
    Der Junge betrachtet ihn und wartet, bis dieser sich den Mund abgewischt hat und wieder zu Atem gekommen ist. Dann schiebt er sich dichter an ihn heran und zieht einen Birkenstab hervor, den er hinter den Gürtel gesteckt hatte. Das eine Ende des Stabes ist mit Birkenrinde und Talg umwickelt.
    »Ich habe eine Fackel mitgebracht, Großvater. Die hat mir Vater gegeben. Er sagte, du dürftest nicht die ganze Nacht hier sitzen. Du sollst runter
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