Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Das Verheissene Land

Titel: Das Verheissene Land
Autoren: Andreas Bull-Hansen
Vom Netzwerk:
Blutes.«
     
    Der Mann saß zwischen zwei Steinblöcken unten am Ufer. Seinen abgenutzten, ledernen Umhang hatte er wie eine Decke um sich geschlagen und die weißen Haare nach hinten aus der Stirn gestrichen. Die Furchen in seiner Stirn und die unzähligen Runzeln an seinen Augen verrieten, dass er alt war. Auch sein Bart war weiß und seine Augen lagen tief unter den buschigen Augenbrauen. Der Mann blickte auf seinen Fuß, der unter dem Umhang hervorlugte, ehe sein Blick über die Wellen schweifte, die gegen die muschelbewachsenen Steine eine Armlänge vor ihm schlugen. Manchmal rollten höhere Wellen heran und platschten gegen die Steine, so dass sein lederner Umhang nass wurde. Der Mann legte sich auf die Seite und sah auf das Meer hinaus. Die Sicht war gut, denn die Wolken, die seit dem letzten Vollmond am Himmel gehangen hatten, waren in der letzten Nacht fortgeblasen worden. Die Inseln im Schärengarten lagen wie blanke Kuppen im Norden im Meer, und wenn er den Blick nach Westen richtete, konnte er durch die Fahrrinne bis aufs offene Meer hinausschauen.
    Der alte Mann saß lange da und starrte über das Meer. Zweimal schwappten die Wellen über seinen Fuß, doch er schien das kaum zu bemerken. Erst als er müde wurde, schloss er die Augen und lehnte sich schwer gegen den Steinblock hinter seinem Rücken. Er schnupperte in die leichte Brise und nahm den Geruch von Meer und mildem Wind wahr. Dann streckte er eine Hand unter dem Umhang hervor. In ihr hielt er ein flach geschnitztes Stäbchen, das kaum länger als zwei Handbreit war. An der Spitze war ein Loch, denn der Mann hatte es an einer Sehne um den Hals getragen. Er fuhr mit den Fingern über die Kerben und Kreise, die in den Primstab geritzt worden waren und murmelte kaum hörbar.
    »Fünf Monde.« Er strich mit dem Daumen über die fünf Kreise. »Fünf Monde, seit der Schnee gefallen ist. Ich habe mich nach dir gesehnt, Frühling.«
    Der Mann wog den Primstab in der Hand, hielt ihn sich vor die Augen und betrachtete die Kerben, die in das flache Holzstück eingeritzt worden waren. Auf dieser Seite des Stabes waren sieben Mondkreise.
    »Bald sieben Monde ist es her. Zwei stehen noch aus.« Er hängte sich den Primstab wieder um den Hals und lächelte. Dann gähnte er und rieb sich die Augen. Er streckte wieder seinen Rücken und warf sich den Umhang über die Schultern. Noch eine Weile blieb er sitzen und betrachtete seine Beine. Eine tiefe Falte zeichnete sich auf seiner Stirn ab, als er mit den Händen über das rechte Bein fuhr. Es war unmittelbar unter dem Knie abgetrennt worden.
    »Noj.« Er richtete seinen Blick zum Himmel. »Mein alter Häuptling und Jagdkamerad. Wir hatten gute Tage zusammen. Schieb ein Fleischstück auf deinen Spieß und leg ein Stück Holz auf die Glut. Es wird nicht mehr lange dauern, bis ich komme.«
    Der Mann rieb sich das Knie und biss sich auf die Unterlippe, ehe er abrupt aufstand und sich umdrehte. Mit Hilfe seiner Arme und seines linken Fußes kletterte er über die Blöcke nach oben. Es ging nur langsam voran, denn obgleich er diese Bewegungsabläufe kannte, lastete das Alter schwer auf ihm. Als er die Mole erreichte, kroch er zu seiner Krücke hinüber, die er zu Boden geworfen hatte. Er richtete sie vor sich auf, erhob sich mit einem Stöhnen und schob sie sich unter die Achsel.
    Die Mole selbst war flach und mit Steinen gepflastert, so dass man bis zur Meeresöffnung vorgehen konnte, was der Alte oft tat. Er liebte es, über die Wellen zu schauen und von dort vorne seinen Blick über die Stadt schweifen zu lassen. Denn hinter der Mole lag eine Stadt; die verwitterten Steinhäuser bedeckten den ganzen Hang. Der Einbeinige war voller Bewunderung für diesen Ort, doch das sagte er niemals zu einem der anderen. Denn sein Volk gehörte nicht hierher. Sie waren das Felsenvolk, das Volk von Kragg.
    »Tirga…« Der Einbeinige lächelte bei diesem Wort. Der Name gefiel ihm, auch wenn es ein Wort war, das an Generationen von Unfrieden und Krieg gemahnte. Es war der Name eines starken Volkes, ein Name, den die Seefahrer voller Furcht und Sehnsucht flüsterten. Und vielleicht würde sein eigener Enkel einmal diesen Namen flüstern, wenn er herangewachsen war.
    Der Einbeinige hielt sich die Hand über die Augen, um die Sonne abzuschirmen. Noch immer hingen die Eiszapfen an den Dächern der zwölf Türme. Sie glitzerten wie die Juwelen von Kels. Und auch auf den Schieferdächern, die sich Richtung Norden zum Meer wandten, lag
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher