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Das Verheissene Land

Titel: Das Verheissene Land
Autoren: Andreas Bull-Hansen
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Dielan.
    »Einen Tag und eine Nacht wachte Bran bei Tir. Stille lag über dem Dorf. Linvi und Gwen brachten ihr Heilkräuter, aber als sie wieder nach draußen kamen, schüttelten sie den Kopf. Ich hielt Gwen im Arm, während wir warteten. Wir trauerten, denn wir wussten alle, was geschehen würde.
    Im Morgengrauen des zweiten Tages wurde die Tür des Langhauses geöffnet. Bran trat mit Tir auf den Armen aus dem Haus. Er hatte sie in seinen Wollumhang gewickelt und ihr Gesicht lag in seiner Halsbeuge. Er ging mit ihr auf den Platz zwischen den Langhäusern. Dort blieb er stehen und drückte sie an sich. Er küsste sie auf den Mund, aber Tir lag leblos in seinen Armen. Dann wandte er seinen Blick zum Himmel und schrie den Göttern seine Trauer entgegen.«
    Dielan legt seinen Arm um den Jungen. Die Stimmen, die von der Lichtung heraufschallen, verkünden, dass gerade eine Gruppe Jäger im Aufbruch ist. Eine raue Männerstimme verlangt nach einem Pfeilköcher. Ein paar Pferde wiehern.
    »Bran hat Tir an dem Hang auf der Westseite des Tals bestattet. Er bedeckte ihren Körper mit Steinen, weil das bei ihrem Volk so üblich war. Und dann saß er den Rest des Tages und die ganze Nacht an ihrem Grab, ehe er wieder zu uns herunterkam.
    Alle verstanden, dass wir ihm Zeit lassen mussten. Aber der Winter und der Frühling vergingen, und als die Eichen wieder gelbe Blätter bekamen, war Bran noch immer schweigsam und mutlos. Ich habe mit ihm über den Kreislauf der Jahreszeiten und das kurze Leben des Menschen gesprochen. Das ist der Wille der Götter, sagte ich. Aber Bran wollte davon nichts hören.
    Mit der Zeit verstanden wir, dass er niemals von seiner Trauer frei werden würde. Und ich konnte ihm keinen Vorwurf machen. Er hatte seinen Sohn und seine Frau verloren. Oft stand er vor dem Langhaus und schaute zu ihrem Grab hoch. Oder er lief zwischen den Bäumen umher und spähte über den Talhang zu den Bergen im Osten. Manch einer sagte, er wäre faul, da er nur noch selten auf die Jagd ging. Und er war nie dabei, wenn wir eine Geburt oder andere Anlässe feierten, die einen Häuptling hätten freuen sollen. In den Jahren nach Tirs Tod lachte er nur ein einziges Mal – als wir Virgas und Kriavas Erstgeborenen feierten. Aber an jenem Abend, wie an vielen anderen Abenden auch, hatte Bran viel Honigwein getrunken. Er suchte Trost im Metkrug, und am liebsten saß er an der Feuerstelle im Langhaus. Er sprach nicht viel, aber wenn doch, dann meist über das Meer. Dann erzählte er von Queya, seinem Blutsbruder in Kin-Mar, und sagte, dass das Blut des Meeres durch seine Adern floss. Und er dachte gern an sein Langschiff.«
    Von der Lichtung tönt der Klang eines Jagdhorns herauf. Dielan hört Hufgetrappel auf dem Waldboden, senkt den Blick und schaut zum Fluss. Durch die Äste kann er den alten Hagdar sehen, wie er mit nackten Beinen ins Wasser watet, sich das rußige Wams über den Kopf zieht und sich Wasser gegen die Brust spritzt.
    »Ich glaube, die Einsamkeit hat Bran zerstört.« Dielan schiebt die Hände hinter den Gürtel. »Er ist vor seiner Zeit gealtert. Bald fing er an zu hinken, und er sagte zu mir, dass Tir ihm vorausgesagt habe, dass es so kommen würde. Es war die Narbe, die er von dem Zweikampf mit dem Königssohn davongetragen hatte, die sein Bein schwächte, aber Bran schien das nicht weiter zu bekümmern. Das jedenfalls sagte er mir gegenüber. Aber ich hörte ihn nachts im Schlaf sprechen, und mit der Zeit verstand ich, was er träumte. Er dachte an Sar, den Inselkönig, den er ertränkt hatte, als wir vor den Männern des Königs aus Aard flohen. Sar hatte ihm in die Augen geschaut und gesagt, dass Bran wie er werden würde, faul und versoffen. Und an der Prophezeiung war etwas dran, Shian. Bran war nicht mehr der Mann, den ich gekannt hatte, als Tir noch lebte. Und ich weiß, dass Bran das auch bewusst war. Die Erinnerungen waren alles, was er noch hatte.«
    Dielan richtet den Blick auf den Berghang im Westen. Er kann den Steinhaufen sehen, unter dem Bran Tir zur letzten Ruhe gebettet hat. Gwen liegt ebenfalls dort. Es tut ihm gut zu wissen, dass sie nicht allein ist.
    Hagdar klettert schwerfällig aus dem Wasser. Sein langer, grauer Bart hängt über die Brust. Sein Rücken ist nach wie vor breit, aber das Alter lastet auf seinen Schultern, und sein Bauch hängt schwer von Met und Hirschfleisch über seinen Gürtel. Hagdar duckt sich unter den Ästen, und Dielan lässt seinen Blick weiter über den Wald nach
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