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Das Verheissene Land

Titel: Das Verheissene Land
Autoren: Andreas Bull-Hansen
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Norden gleiten. Er hört die Jäger unter den Baumkronen entlangreiten. Shian greift nach seiner Hand.
    »So vergingen fünf Winter. Im fünften Frühling nach Tirs Tod donnerte ein gewaltiger Sturm über das Tal. Er riss Äste von den Eichen und versetzte unsere Pferde in Angst und Schrecken. Sieben Tage tobte er, und als es endlich vorbei war, dankten wir Kragg, weil er seine Flügel schützend über uns ausgebreitet hatte. Wir liefen durch den schmelzenden Schnee und sahen, dass der Sturm milderes Wetter mit sich gebracht hatte.
    An jenem Abend tat Bran etwas, was ich ihn seit vielen Jahren nicht mehr hatte tun sehen. Er legte seinen alten Fellumhang um und nahm den Bogen von der Wand. Er hängte das Bronzehorn über die Schulter, das er von Visikal bekommen hatte. Dann rollte er ein Fell zusammen und füllte seinen Wasserschlauch. Zum Schluss griff er nach seinem Speer und öffnete die Tür.
    Ich erinnere mich noch, dass Nebel über dem Tal lag. Er war mit der Abenddämmerung gekommen. Bran hinkte wie gewohnt. Er bat mich, ihn zu der Felsscharte zu begleiten, die uns einst in dieses Tal geführt hatte. Er wolle auf die Jagd, sagte er, aber als wir durch den Fluss wateten und den Talhang emporstiegen, blieb er stehen und stützte sich auf seinen Speer. Er bat mich, den anderen genau das zu sagen, was er mir gerade gesagt hatte, dass er nämlich in die Berge zog, um zu jagen. Aber als er mich an der Schulter packte und an sich drückte, verstand ich.
    Alles Bitten war umsonst. Bran erklärte, dass ich sein Nachfolger als Häuptling werden sollte. Er versuchte mich anzulächeln, ehe er sich umdrehte und zu der Felsscharte humpelte. Dort unten, wo der Bärlauch wächst, drehte er sich noch einmal zu mir um und hob die Hand zu einem letzten Gruß. Danach verschwand er im Nebel.«
    Ein Windstoß fährt durch das Tal und rüttelt an den Baumkronen. Dielan rafft den Umhang vor dem Hals zusammen.
    »Sie sagen, dass Bran aufgebrochen sei, um nach seinem Sohn zu suchen, aber ich weiß, dass das nicht wahr ist. Bran ist zum Meer zurückgekehrt. Und ich glaube, es war das Beste, was er tun konnte. Denn er selbst, der uns in dieses Tal geführt hat, fand hier keinen Frieden. Es dauerte ein paar Jahre, bis ich verstand, warum er uns verlassen musste, und das waren Zeiten, in denen meine eigene Sehnsucht so groß war, dass ich kaum an die Sorgen meines Bruders dachte. Aber ich glaube, die Götter hatten beschlossen, dass Bran zum Meer gehörte. Es floss in seinen Adern. Und wenn ich jetzt hier oben stehe und dem Wind lausche, ist mir, als hörte ich das Schlagen der Wellen am Schiffsrumpf und das Knarren des Steuerruders. Und dann sehe ich meinen Bruder vor mir, wie ich ein alter Mann. Er steht alleine auf seinem Langschiff, und seine Augen suchen die rastlosen Wellen ab. Und dann wünsche ich, dass ich bei ihm sein könnte.«
    Dielan fasst sich ins Kreuz und geht auf die verwitterte Treppe zu. Shian folgt ihm, und Dielan stützt sich auf seine Schulter. Der Junge hilft ihm die drei Stufen hinunter auf den Pfad, und dort bleibt der alte Mann stehen. Er fühlt den Wind im Gesicht. Unten im Tal wogen die Baumkronen, und das Gras am Rand des Pfades biegt sich unter den Windstößen. Er hebt den Blick zum Himmelszelt. Aus den Bergen im Westen treiben Wolken heran. Es wird Sturm geben.

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