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Das Verheissene Land

Titel: Das Verheissene Land
Autoren: Andreas Bull-Hansen
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Beherrschung. Er schoss einen Pfeil nach dem anderen auf den Wolf ab, aber der sprang mit einem Satz von dem Felsblock und lief über den Berghang davon. Bran nahm die Verfolgung auf. Wir ebenfalls. Aber der Wolf verschwand zwischen den Felsen. Drei Tage haben wir nach ihm gesucht, ehe wir ins Tal zurückgingen und nach mehr Spuren suchten. Der Nebel hatte sich verzogen, aber das half uns auch nicht weiter. Wir haben Brans Sohn niemals gefunden.«
    Dielan fühlt das Brennen der Tränen in den Augenwinkeln und weiß, dass Shian es auch sieht. Aber er macht sich nicht die Mühe, seine Tränen zu verbergen oder wegzuwischen, denn er schämt sich nicht für seine Trauer.
    »Ich war derjenige, der ins Dorf zurückkehrte. Hagdar und Virga blieben am Hang zurück, weil Bran sich weigerte aufzugeben. Und so musste ich Tir überbringen, was geschehen war. Ich werde niemals ihren Blick vergessen, als ich sagte, dass ihr Sohn in den Bergen verloren gegangen war. Sie schlug die Hand vor den Mund und versuchte, vor mir zu verbergen, dass sie weinte. Dann wandte sie mir den Rücken zu und ging ins Langhaus. Ich ließ sie gehen. Zu etwas anderem hatte ich keine Kraft.«
    Shian greift nach Dielans Hand und tätschelt dem alten Mann den Handrücken. Dielan sieht ihn an, wischt sich die Tränen aus den Augen und lächelt.
    »Bran ritt danach bis zum nördlichsten Zipfel des Tales, und er begab sich hoch hinauf in die Berge. Aber er fand keine weiteren Spuren von seinem Sohn. Wir ließen ihn suchen, aber als der Winter kam, sprachen wir über Ulv, wie wir über Turvi und all die anderen sprachen, die nicht mehr unter uns weilten.«
    Dielan hustet und räuspert sich, ehe er wieder über das Tal blickt. Der Wind bläst das Haar aus seinem Gesicht.
    »Trotzdem habe ich die Hoffnung nie aufgegeben, dass er eines Tages zurückkehren wird. Bran träumte von ihm, weißt du. Er träumte von seinem Sohn. Denn Bran war überzeugt, dass Ulv der Jäger aus seinen Träumen war. Bran erzählte mir, was Turvi gesagt hatte, bevor er starb, und vielleicht hatte der Einbeinige tatsächlich Ulv gesehen, als er seinen letzten Atemzug tat. Ich habe die Hoffnung nie aufgegeben, Shian, dass Brans Träume sich noch einmal als wahr erweisen werden und dass Ulv, Cernunnos’ Geist in sich tragend, als der Wanderer zu uns zurückkehrt. Aber die Hoffnung wird mit jedem Winter geringer, Shian. Bald sind vier mal zehn Jahre vergangen, seit Ulv verschwand, und ich bin ein alter Mann, der nur noch wenige Sommer erleben wird.«
    Dielan streckt seine steifen Beine. Er stützt sich auf die Ellenbogen und macht Anstalten, sich zu erheben, gibt es aber schnell wieder auf und sinkt auf seinen Platz zurück. »Ich habe viel über das nachgedacht, was damals geschehen ist, Shian. Tir hatte ihren Sohn nach dem Wolf aus ihren Träumen benannt. Manchmal frage ich mich, ob sie schon damals gewusst hat, was passieren würde.«
    »Erzähl mir von Tir«, bittet Shian. »Vater sagt…«
    »Du sollst nicht auf deinen Vater hören!« Dielan hebt drohend die Faust gegen das Tal. »Dein Vater hat keine Ahnung. Aber ich werde dir erzählen, was weiter geschah, Shian. Tir wurde nie mehr die Gleiche, nachdem Ulv verschwunden war. Im folgenden Winter wurde sie von einem quälenden Husten befallen, so wie ich ihn jetzt habe. Aber ich bin alt, und Tir war eine junge und starke Frau. Einige meinten, das käme von der alten Pfeilwunde und dass sie lernen müsste, mit dem Husten zu leben. Und Tir akzeptierte ihr Schicksal. Sie betete zu ihrem Gott, Cernunnos, so wie Bran. Und so kam der Horngott zu uns, Shian. Eine Weile sah es so aus, als ob es Tir wieder besser ginge, und wir dankten Cernunnos dafür. Die Jahre vergingen, aber vier Winter nach Ulvs Verschwinden kippte sie plötzlich um. Sie war draußen gewesen, um Brennholz zu holen. Bran war bei Hagdar in der Schmiede. Kais Sohn entdeckte sie als Erster, und Kaer trug sie ins Langhaus, während wir anderen nach Bran riefen. Als Bran endlich kam, fiel er neben seiner Frau auf die Knie und bat uns zu gehen und ihn mit ihr alleine zu lassen.«
    Dielan holt keuchend Luft, rollt sich auf die Seite und kommt mühsam auf die Knie. Er wischt sich mit dem Ärmel über die Augen, ehe er sich auf Shian stützt und mit einem Stöhnen aufrichtet. Er reibt sich mit zusammengebissenen Zähnen die Knie. Dann legt er die Hand aufs Kreuz und schaut ins Tal hinunter. Der Junge ist ebenfalls aufgestanden. Er wickelt sich in das Fell ein und stellt sich neben
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