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Die Siechenmagd

Die Siechenmagd

Titel: Die Siechenmagd
Autoren: Ursula Neeb
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Prolog
     
     
     
    Am frühen Morgen des 22. März im Jahre des Herrn 1506 verlässt der Kaufmann Ulrich Neuhaus sein Stadthaus in der Neustadt und läuft die Neue Krame hinunter in Richtung Altstadt. Bewusst hat er darauf verzichtet, eines seiner prächtigen Reitpferde satteln zu lassen, ebenso hat er sich gegen jegliche Begleitung verwehrt, sei es durch seine Gattin und die beiden Söhne, sei es durch einen seiner Diener. So geht er nun zu Fuß durch die engen Gassen der Frankfurter Altstadt wie ein einfacher Mann. Die pelzverbrämte Schaube und der vornehme Biberhut weisen ihn freilich als einen Mann aus den besten Kreisen aus. Doch ist sein Gang nicht stolz und aufrecht, wie man es sonst eher bei einem Dominus gewöhnt ist. Mit hängenden Schultern, das Haupt gesenkt, die Schritte schwer, bewegt er sich mehr wie ein Lastenträger und weniger wie eine Standesperson. Am Steinernen Haus der Patrizierfamilie Melem vorbeikommend, zieht er noch mehr als bisher schon den Kopf ein und eilt in Richtung St. Bartholomäus, wo unterhalb, eingebettet zwischen Saalgasse und Mainmauer, das Hospital zum Heiligen Geiste liegt. Er ist angekommen! Geblendet vom gleißenden Licht der Frühlingssonne nähert er sich der ausladenden Hospitalpforte und betätigt, nach kurzem Zögern entschlossen, den schweren Türklopfer. Bald schon öffnet sich der Laden an der Seite, durch den zu bestimmten Zeiten den Stadtarmen die Suppe gereicht wird, und der kahle Kopf des Hospitaldieners erscheint in der Fensternische.
    „Guten Morgen, Herr Rat, ich weiß Bescheid“, entgegnet er prompt beim Anblick des honorigen Herrn und öffnet ihm umgehend das Portal.
    „Tretet ein, Herr Neuhaus, die Prüfmeister erwarten Euch schon und sind gleich bereit.“
    Dienstfertig geleitet der Pförtner den Besucher zu einem kleinen Raum, der direkt an den Lichthof grenzt.
    „Nehmt einstweilen hier Platz, mein Herr. Ich melde der Kommission, dass Ihr da seid.“ Der Hospitaldiener entfernt sich beflissen.
    Es ist ein strahlender Frühlingsmorgen, genau anderthalb Stunden nach Sonnenaufgang. Die Vögel zwitschern und süßer Blütenduft durchdringt den lichtdurchfluteten Warteraum, dessen Fenster weit geöffnet sind. Ulrich Neuhaus, Angehöriger der altehrwürdigen Stubengesellschaft auf dem Alten-Limpurg und Mitglied des Rates der freien Reichsstadt zu Frankfurt am Main, steht am Fenster und blickt nach draußen in den kleinen Spitalgarten mit Bäumen und blühenden Blumen. Schweißperlen glitzern auf seiner Stirn und seine Fingernägel graben sich tief in das Fleisch seiner verschränkten Arme. Schweißgebadet entledigt er sich schließlich der schweren Schaube aus feinem, englischem Tuch. Während er das Gewand über einen Stuhl wirft, bemerkt er, dass er am ganzen Körper bebt und neben den Hitze Wallungen durchfährt es ihn immer wieder eiskalt, so dass er zu schlottern anfängt.
    Wie der reinste Bettseicher! Ulrich, jetzt reiß’ dich am Riemen!, ermahnt er sich selbst, bemüht, sich zu sammeln, und beginnt, immer noch zitternd, still zu beten, als sich die Flügeltür öffnet und eine junge Krankenmagd mit gestärkter weißer Haube ihn bittet, ihr zu folgen. Sie geleitet ihn zu einem großen, hellen Raum am anderen Ende des Lichthofs und fordert ihn auf, sich vollständig zu entkleiden und sich auf dem Krankenstuhl, der in helles Sonnenlicht getaucht ist, niederzulassen. Sogleich betreten die sechs Prüfmeister nacheinander den Raum, gefolgt von einem städtischen Schreiber, der das Prüfungszeugnis protokollieren wird. Mit feierlichem Ernst begrüßt der Vorsteher den Wartenden und erklärt die Untersuchung für eröffnet. Er bittet den Protokollführer, die Fenster zu schließen. Mit größter Vorsicht und Sorgfalt befühlen und betasten die vereidigten Prüfer die Knoten im Gesicht und an den Gliedmaßen von Ulrich Neuhaus, stechen behutsam mit Nadeln in die hellen Hautflecken, befragen den Patrizier, ob er an diesen Stellen etwas fühle, ob ihn die Stiche schmerzen würden. Neuhaus verneint wahrheitsgemäß, ist gleichzeitig aber hochgradig alarmiert über diese ihm bisher unbekannte Schmerzunempfindlichkeit, die wohl nichts Gutes zu bedeuten hat. Mit konzentrierten Mienen stellen ihm die Prüfer verschiedene Fragen in Bezug auf Beschwerden und Symptome. Knapp und etwas gereizt antwortet er: Ihn stören die verstümmelten Gesichter der Prüfmeister und ihre schrillen Stimmen. Erst recht grausen ihn die Berührungen ihrer klauenartigen Hände auf
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