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Die Siechenmagd

Die Siechenmagd

Titel: Die Siechenmagd
Autoren: Ursula Neeb
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seinem Körper. Die Schar ist ihm regelrecht zuwider und er nimmt im Hinterkopf so etwas wie Besorgnis auf ihren entstellten Zügen wahr. Nach gut einer Stunde erklärt der Vorsteher die Prüfung für beendet. Der Untersuchte kann sich wieder ankleiden und wird gebeten, Platz zu nehmen und auf die Verkündung der Diagnose zu warten. Die Kommission zieht sich zur Beratung in einen Nebenraum zurück. Kein Laut von ihrer Unterredung dringt zu Neuhaus durch und es dauert auch nicht lange, bis die Prüfmeister zurückkehren. Feierlich stellen sie sich vor dem Patrizier auf, der Vorsteher räuspert sich, bevor er mit seiner merkwürdig krächzenden Stimme zu sprechen beginnt: „Ulrich Neuhaus, Stadtbürger zu Frankfurt am Main, wir haben Euch ehrsam und aufrichtig untersucht und befinden Euch als einen kranken und siechen Manne. Wir würden Euch gerne sagen, dass Ihr gesund seid, aber wegen unseres Eides, den wir geleistet haben, müssen wir Euch die Wahrheit sagen. Ihr seid am Aussatz erkrankt. Habt Geduld im Herzen und Ihr werdet ein Kind des ewigen Lebens werden.“
    Diese so oft ausgesprochenen Worte der Prüfungskommission werden von den Betroffenen stets wie ein Todesurteil aufgenommen. So auch von Neuhaus, der schluchzend zusammenbricht und fassungslos beklagt, was er schon seit langem geahnt, aber mit aller ihm zur Verfügung stehenden Kraft verdrängt hat:
    Er leidet an Lepra, ist ein von Gott Gezeichneter! Genau wie die vereidigten Kranken, die die Lepraschau an ihm vollzogen haben, wird man ihn aus der menschlichen Gemeinschaft absondern. Mit ihren grauenhaften Fratzen wird er fortan leben müssen, da draußen im Hospital der Guten Leut! Wird bei lebendigem Leib verfaulen, wie sie.
    Dann doch lieber tot sein!

 
1. Auf zum Galgenfest
     
     
     
    „Jetzt kommen die Stubengesellschaften! Da könnt’s gleich Groschen regnen für uns, Josef!“, flüstert das Mädchen dem Mann im Narrenkäfig zu.
    Eine Gruppe prächtig gekleideter Männer und Frauen passiert in trippelndem Schritt das Mainzertor. Die Männer tragen eng anliegende, vielfarbige Beinlinge, welche das Gesäß und die Geschlechtsteile deutlich hervortreten lassen, kombiniert mit kurzen, mit Goldknöpfen versehenen Hemdjacken aus edlem Tuch. Ihre Häupter sind bedeckt mit pelzverbrämten Samtbaretten in leuchtenden Farben. Den Blickfang allerdings bildet das Schuhwerk: Schuhe aus Samt und Seide oder aus feinstem Leder mit Perlen bestickt, verschiedenfarbig an jedem Fuß, wuchernde Gebilde mit schnabelartigen Schuhspitzen in kurioser Länge. So lang sind die Schnäbel, dass ihre Träger sie mit Gold- und Silberketten an die Knie hochgebunden haben, um darin laufen zu können.
    Die Damen, gehüllt in brokatene, pelzgefütterte Mäntel, die langen Schleppen wie Pfauenschwänze hinter sich hertragend, heben graziös den Saum des Gewandes, um zierliche Füße in „Chopinen“ sichtbar werden zu lassen – die hohen Stelzenpantoletten sind die neueste Schuhmode aus Venedig.
    Die Patrizier streifen das Mädchen und den Narren mit abschätzigen Blicken, fassen zögerlich in ihre reich mit Quasten und Seidenbändern dekorierten Almosentaschen und werfen ein paar Münzen in Richtung der beiden.
    Flink springt das zerlumpt gekleidete junge Mädchen herbei, klaubt das Geld vom Boden auf und ruft den Wohltätern ihr „Gott segne Euch!“ hinterher.
    Das Mädchen tritt an den Käfig, in dem der Mann sitzt, mit dem sie die ganze Zeit gesprochen hat und reicht ihm die Münzen. Dieser überlässt ihr wortlos einige Geldstücke und steckt den Rest mit unbewegter Miene unter seine Lumpen.
    Josef sagt schon seit vielen Jahren kein Wort mehr, und ebenso wenig verzieht er irgendeine Miene. Die Frankfurter kennen ihn als den „toden Josef.“ Lange Jahre schon lebt er abwechselnd im Mainzerturm nahe der Mainzerpforte oder im Brückenturm, den beiden städtischen Gefängnistürmen, in denen die Stadt auch ihre Narren unterbringt. Von Zeit zu Zeit, wenn die Türme überfüllt sind, quartiert man einige der Unsinnigen in die Narrenkäfige um, die draußen vor den Stadttoren angebracht werden und neben der allgemeinen Volksbelustigung auch den Zweck verfolgen, den Kranken von Sinnen die Möglichkeit zu geben, milde Gaben zu erbetteln.
    Das Mädchen geht gerne zu den Tollkisten an der Stadtmauer. Wenn dort etwas gespendet wird, fällt meistens auch etwas für sie ab. Außerdem mag sie die Kranken des Gemüts und unterhält sich gerne mit ihnen. Das Gute an ihnen ist, dass
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