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Im Kreis des Wolfs

Im Kreis des Wolfs

Titel: Im Kreis des Wolfs
Autoren: Nicholas Evans
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SOMMER
    1
    Manche glauben, dass der Geruch des Todes jahrelang an einem Ort haften kann. Er sickert in den Boden, sagen sie, und wird langsam durch die Wurzeln aufgesogen, bis irgendwann alles, was dort wächst, von der kleinsten Flechte bis zum höchsten Baum, Zeugnis davon trägt.
    Vielleicht spürte der Wolf das, als er an jenem späten Nachmittag lautlos die bewaldeten Hänge hinabschlich und mit seinem glänzenden Sommerfell die unteren Äste der Kiefern und Tannen streifte. Und vielleicht hätte dieser Hauch einer Ahnung in seiner Nase, dass hier an diesem Ort vor fast hundert Jahren so viele seiner Art getötet worden waren, ihn umkehren lassen sollen.
    Doch er lief weiter talwärts.
    Am Abend zuvor war er aufgebrochen und hatte die anderen im Hochland zurückgelassen, wo selbst jetzt im Juli noch späte Frühlingsblumen blühten und Schneeflecken in sonnenscheuen Rinnen lagen. Einem Gebirgskamm war er nach Norden gefolgt, hatte sich dann ostwärts gewandt und an den Verlauf eines jener kurvigen Felscañons gehalten, die wie Trichter die Schmelzwasser hinab in die Täler und Ebenen lenkten. Er blieb hoch oben, mied die Fährten, vor allem jene, die am Wasser entlang führten, da es dort um diese Jahreszeit manchmal Menschen gab. Wo immer es möglich war, blieb er auch nachts oberhalb der Baumgrenze, glitt so mühelos am Rand der Schatten entlang, dass seine Pfoten kaum den Boden zu berühren schienen. Fast konnte man meinen, sein Ausflug habe ein bestimmtes Ziel.
    Als die Sonne aufging, hielt er an, um zu trinken, fanddann einen schattigen Winkel im Geröll und verschlief die Hitze des Tages.
    Sein Weg ins Tal wurde immer beschwerlicher. Der Waldboden fiel steil ab, Gehölz versperrte ihm den Weg, aufgeschichtet wie Feuerholz in einem riesigen Kamin, so dass der Wolf nur mühsam vorankam. Manchmal lief er zurück, um sich einen besseren Weg zu suchen und das verräterische Knacken trockener Äste, das die Stille durchbrach, zu vermeiden. Hier und da fielen Sonnenstrahlen durch die Bäume und schufen helle Inseln aus leuchtendem Grün, denen der Wolf jedoch stets auswich.
    Er war ein vier Jahre alter Rüde, das Leittier seines Rudels, von fast völlig schwarzer Farbe, nur Flanken, Kehle und Schnauze säumte ein Hauch Grau. Hin und wieder blieb er stehen, senkte den Kopf, um an einem Busch oder einem Grasbüschel zu schnuppern, hob dann das Bein, setzte seine Markierung und brachte damit seinen Anspruch auf dieses lange verlorene Revier zum Ausdruck. Manchmal hielt er die Nase in den Wind, und seine Augen wurden zu schmalen, gelben Schlitzen, während er die Duftnoten las, die aus dem Tal heraufgeweht wurden.
    Einmal roch er etwas in seiner Nähe, wandte den Kopf und sah zwei weißschwänzige Rehe, Ricke und Kitz, kaum ein Dutzend Schritte entfernt, wie sie ihn, erstarrt in einem Sonnenstrahl, aufmerksam beobachteten. Er blickte hinüber, hielt uralte Zwiesprache mit ihnen, die selbst das Kitz verstand. Einen langen Augenblick regte sich nichts, nur Sporen und Mücken drehten sich in glitzernden Spiralen über den Köpfen der Tiere. Doch dann, als wären Rehe und Mücken gleichermaßen uninteressant für einen Wolf, wandte er seinen Blick ab und nahm erneut Witterung auf.
    Aus anderthalb Meilen Entfernung kamen die Gerüche des Tals, Gerüche von Vieh und Hunden, der beißendeGestank der Maschinen. Und obwohl er um die Gefahr wusste, die ihm niemand hatte erklären müssen, lief er tiefer hinab, während ihm aus unergründlich schwarzen Augen die Blicke der Rehe folgten, bis er zwischen den Bäumen verschwunden war.
    Das Tal, das sich nun vor dem Wolf öffnete, war eine langsam breiter werdende Gletschermulde, die sich in östlicher Richtung bis zur Stadt Hope erstreckte. Sie wurde von steilen, dicht mit Kiefern bestandenen Hängen gesäumt, die von oben gesehen zwei Armen glichen, die sich sehnsüchtig den sonnengebleichten, vom östlichen Stadtrand bis zum Horizont und viele Meilen darüber hinaus sich ausdehnenden Prärien entgegenstreckten.
    An der breitesten Stelle war das Tal fast vier Meilen weit. Es galt nicht gerade als ausgezeichnetes Weideland, doch hatte manch einer damit sein Leben bestritten, und ein oder zwei hatte es reich gemacht. Hier wuchs zuviel Salbei, außerdem gab es überall Steine, und wo immer sich das Weideland ausdehnen wollte, wurde es von einer Schlucht oder einem von Büschen und Felsbrocken in seinem Lauf behinderten Bach durchschnitten. Auf halbem Weg ins Tal hinab mündeten
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