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Die Siechenmagd

Die Siechenmagd

Titel: Die Siechenmagd
Autoren: Ursula Neeb
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Bettelmeister, des biste unsrer ehrenwerten Zunft schuldig“, kreischt eine andere Stimme aus dem Publikum. Der Kampf zwischen den etwa gleichstarken Gegnern zieht sich hin, beide bieten ihre ganze Kraft auf, doch keinem will es gelingen, den Arm des anderen auf die Tischplatte zu pressen. Ihre Gesichter sind krebsrot und glänzen vor Schweiß.
    Bei dem Angesprochenen handelt es sich um den städtischen Bettelvogt, dessen Aufgabe es ist, das Bettlertum zu kontrollieren und zu beaufsichtigen. Wegen seines unnachsichtigen Durchgreifens hat Meister Knut, genannt „die Knute“, schon lange seinen Ruf weg: Mit dem scharfen Blick seines einen Auges ist er stets auf der Jagd nach ortsfremden Bettlern, um sie mit Peitschenschlägen aus der Stadt zu treiben, denn der Bettelei nachgehen dürfen in Frankfurt nur die einheimischen Bettler und Stadtarmen. Sie alle nimmt der Knute unter ihre Kandare, um ihnen in regelmäßigen Abständen einen großen Teil ihres Erbettelten wegzunehmen. Einäugig und von Pockennarben entstellt, bietet er einen Anblick von erschreckender Hässlichkeit. Einst hat Knut sein täglich Brot selber erbettelt, und darum sind ihm auch sämtliche Tricks und Kniffe des Bettelvolkes so gut bekannt.
    Der Sterzermeister haust mit seinen Bütteln in kleinen, nischenartigen Anbauten an der westlichen Stadtmauer nahe dem Stadtgefängnis an der Mainzerpforte. Im Galgenviertel munkelt man, er sei inzwischen so reich, dass er sich schon längst zu Ruhe setzen könnte, wäre da nicht seine grenzenlose Habgier und die Freude am Leuteschinden.
    Das Kräfteringen der beiden Kontrahenten hat einen Punkt erreicht, an dem die Männer an ihre Grenzen gelangt sind. Die Zähne fest zusammengebissen, bebend vor Anstrengung, erscheinen ihre Gesichtszüge nur noch wie Grimassen. Der Bettelvogt macht überdies den Eindruck, als würde ihn jede Minute der Schlag treffen, so dick geschwollen sind die Adern an Schläfen und Hals. Da ertönt plötzlich aus seinem Mund ein wilder Schrei, und zum lauten Jubel derer, die auf ihn gesetzt haben, drückt er mit einem festen Ruck den Arm des Waldschrats auf den Tisch. Ein Schiedsrichter verteilt die Gewinne, wobei der Löwenanteil der Knute zufällt. Während dieser die Münzen sorgsam in seiner Geldkatze verstaut, die er um den dicken Leib gebunden hat, wirft er dem Waldaufseher einen verächtlichen Blick zu. „Siehst du, Grünratt“, sagt er, „kannst zwar schön mit deiner Armbrust schießen, richtig zu kämpfen, verstehste aber net. Davon hat einer wie du, der zur Erbauung auf die Leut’ schießt wie andre auf Rehböck, keine Ahnung. Gott vergelt’s!“, verabschiedet er sich knapp und erhebt sich zum Gehen.
    Mäu schickt sich ebenfalls an, weiter zu ziehen. Ihr knurrt inzwischen der Magen, sie wird sich eine Wurstsemmel leisten und dazu ein kühles Bier trinken und sich dann nach Hause machen.
    Die Hinrichtung, die bestimmt bald stattfinden wird, will sie sich sowieso nicht anschauen. So viele hat sie schon gesehen, und immer ist ihr schlecht geworden dabei. Nicht nur der Anblick des zitternden Delinquenten, sondern auch das johlende Beifallsgekreisch des Hinrichtungspublikums, wenn Meister Hans, der Henker, wieder mal seine Pflicht erfüllt hat, sind ihr zutiefst zuwider.
    Als sie sich durch das dichte Menschengewimmel kämpft, um zur Wurstbraterei durchzukommen, scheint auf einmal die Menge ins Stocken geraten zu sein und es geht überhaupt nicht mehr weiter.
    Ärgerlich versucht sie, sich durchzuzwängen, was ihr ein Stück weit auch gelingt. Sie kann, umringt von der Menschentraube, einen Flugblatthändler erkennen, der mit wohltönender Stimme deklamiert.
    Diese wandelnden Zeitungen erfreuen sich großer Beliebtheit seitens der Bevölkerung und sind durch die Erfindung des Buchdrucks sehr in Mode gekommen. Die Flugblätter behandeln Themen wie Liebe, Tod, Sensationen, Kuriositäten und Schauergeschichten; sie liefern aber auch Informationen über aktuelle politische Ereignisse, die vom Flugblatthändler lautstark kommentiert werden, wobei Spott und Kritik meistens nicht fehlen. Dem größtenteils leseunkundigen Publikum müssen sie vom Flugblattverkäufer mit viel Gestus und Pathos vorgelesen werden. Für die Bevölkerung auf dem platten Land sind sie oftmals die einzige Nachrichtenquelle und Abwechslung. Der Einfluss des Flugblatthändlers auf die Meinungsbildung ist dabei nicht unbeträchtlich. Darum werden sie auch häufig von Seiten der Obrigkeit mit Argusaugen
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