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Einsamen

Einsamen

Titel: Einsamen
Autoren: H Nesser
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E r wachte von streitenden Stimmen auf. Sie stammten weder von Vater noch von Mutter. Die stritten sich nie. Man kann doch in der heiligen Familie nicht streiten, pflegte Vater zu sagen und dann auf diese ernste Art und Weise zu lachen, so dass man nicht wusste, ob er nun Spaß machte oder es ernst
meinte.
    Es war auch nicht Vivian, die da zeterte, oder ein anderer Mensch. Nein, die Stimmen waren in ihm selbst.
    Tu es, sagte die eine. Es geschieht ihnen nur recht. Sie sind ungerecht.
    Tu es nicht, sagte die andere. Es wird Prügel setzen. Er wird es merken.
    Komisch, dass man von Stimmen aufwachen kann, die es eigentlich gar nicht gibt, dachte er. Er schaute auf die Uhr. Es war erst halb sieben. Noch zwanzig Minuten, bis er normalerweise aufstand. Das war ebenfalls komisch. Er wachte so gut wie nie von allein auf. Seine Mutter musste ihn meistens wecken, und das nicht nur einmal.
    Aber das lag natürlich daran, dass es ein besonderer Morgen war.
    Natürlich. Und weil er gestern Abend daran gedacht hatte. Bevor er eingeschlafen war, und darüber stritten sich die Stimmen jetzt. Er hatte sicher auch davon geträumt, das musste so sein, obwohl er sich nicht daran erinnern konnte. Er blieb noch eine Weile liegen und versuchte wieder in den Schlaf zu finden, aber es klappte nicht.
    Dann setzte er sich auf die Bettkante. Ich tu es, dachte er. Vielleicht passiert ja gar nichts, aber ich bin so wütend. Es ist einfach nicht gerecht, und wenn etwas ungerecht ist, dann muss man etwas tun, das sagt Vater ja auch immer.
    Lass es, sagte die andere Stimme. Er wird es merken, und wie um alles in der Welt willst du ihm das dann erklären?
    Er wird gar nichts merken, erwiderte die erste Stimme. Sei nicht so verdammt feige. Du wirst es sonst bereuen und dich dafür schämen, dass du so feige warst, wenn du es nicht tust. Außerdem ist es ja nur ein Pups.
    Ganz im Gegenteil, widersprach die andere Stimme. Du wirst es bereuen, wenn du es tust. Und es ist nicht nur ein Pups.
    Aber sie war nicht mehr so kräftig, diese Stimme, die ihn zurückhalten wollte. Eigentlich nur noch ein Flüstern. Er stand auf und ging zu dem Stuhl, über dem seine Kleider hingen. Schob die Hand in die Tasche der hellblauen Strickjacke und vergewisserte sich.
    Ja, die Schachtel mit den Pastillen lag noch dort. Babyleicht, dachte er. Es wäre wirklich babyleicht, und das Risiko, dass er erwischt wurde, war kleiner als ein Pups im Sturm. So pflegte sein Vater immer zu sagen. Andere Menschen sagten, wie ein Tropfen Wasser im Meer, aber sein Vater sagte immer, wie ein Pups im Sturm.
    Die andere Stimme versuchte noch etwas anzubringen, aber sie war so schwach, dass er sie nicht mehr hörte. Höchstens noch als … ja, genau das, er konnte nicht anders, er musste darüber kichern … als ein Pups im Sturm.
    Er ging auf die Toilette und spürte, wie sein Körper pri-
ckelte. Der Entschluss fühlte sich an wie ein warmes Knäuel in seinem Kopf.

I

1
    R ickard Berglund war ein in vielerlei Hinsicht rational denkender junger Mann, aber den Dienstag mochte er nicht.
    Das war nicht immer so gewesen. Vernünftig war er schon immer, aber in den letzten Jahren der Fünfziger – noch bevor er den Schritt von der Stavaschule zur Realschule in Töreboda gemacht hatte – war es im Falle der Dienstage genau umgekehrt gewesen. Damals waren sie von einem gewissen Glanz umhüllt. Der Grund war ganz einfach oder besser gesagt zweifach: am Dienstag fiel das Donald-Duck -Heft durch den Briefschlitz, und außerdem war es der Tag, an dem seine Mutter ihm Krapfen mit warmer Milch vorsetzte, wenn er mittags nach Hause kam.
    Diese Kombination, mit einer großen, von Puderzucker bedeckten Semmel am Tisch zu sitzen, die elegant in einer mit Zimt und Zucker gewürzten Milch schwamm, und dabei ein noch ungelesenes – fast konnte man sagen, von Menschenhand noch unberührtes – Magazin links vom Teller auf der rotweißkarierten Wachstuchdecke liegen zu sehen, ja, allein das Wissen um dieses bevorstehende Vergnügen ließ ihn die vierhundert Meter zwischen der Schule und dem weißen Einfamilienhaus in der Fimbulgatan meist rennen.
    Erst später bekamen die Dienstage einen anderen Ton. Insbesondere in den Jahren 1963 und 1964, als er die Schule wechselte, zu alt für Donald Duck wurde und als sein Vater Josef im Sanatorium von Adolfshyttan lag und schließ-
lich starb.
    Denn immer an diesem Wochentag nahm er mit seiner Mutter Ethel den Bus und besuchte den Vater. Der Bus war blau, hatte
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