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Einsamen

Einsamen

Titel: Einsamen
Autoren: H Nesser
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hinausfahren, vor dem Feuer mit den Cousins und Cousinen spielen.
    Er selbst sollte mit Tante Hjördis zu Hause bleiben. Vivianne durfte mitkommen, weil sie noch so klein war. Sie hatte keine Schule, die versäumt wurde. Sie war nur ein kleines Kind, und nur weil sie noch ein kleines Kind war, durfte sie mit nach Rödtjärn.
    Mutter hatte bei ihm auf der Bettkante gesessen und es ihm gestern Abend erklärt. So war es nun einmal. Er war zehneinhalb Jahre alt und musste an die Schule denken. Man konnte nicht mitten im Schuljahr einfach drei Tage frei nehmen, das war doch klar. Er war ja schon ein großer Junge. Und am Sonntag wären sie wieder zu Hause, vielleicht sogar schon am Samstagabend. Das kam aufs Wetter an.
    Er hasste Tante Hjördis. Er hasste Vater und Mutter, weil sie ihn bei Tante Hjördis zurückließen. Er hasste Vivianne, weil sie nur ein Rotzkind war, das mit nach Rödtjärn durfte und keine Schule hatte, die sie versäumen konnte.
    Aber die Rache war sein. Wenn Vater merkte, dass er die Tabletten vertauscht hatte, würde es Prügel geben. Daran bestand kein Zweifel. Aber er glaubte nicht, dass Vater einen Unterschied bemerken würde. Man konnte keinen Unterschied sehen. Er hatte lange darüber nachgedacht. Mindestens ein halbes Jahr. Die Tabletten, die Vater jeden Morgen mit einem Schluck Stachelbeersaft schluckte, sahen haargenau so aus wie die Halspastillen von Ziggy. Wenn er sie kaute, würde er natürlich den Unterschied bemerken, aber Vater kaute seine Tabletten nie. Er warf sie sich direkt in den Mund und spülte sie mit einem ordentlichen Schluck Saft hinunter, das war jeden Morgen das Gleiche, und er brauchte sie wegen irgendeiner Krankheit. Etwas mit Schwindelgefühlen.
    Das geschah ihnen nur Recht, wenn er in Rödtjärn krank wurde. Oder sie gar nicht erst so weit kamen. Er würde niemals zugeben, dass er die Pillen vertauscht hatte. Keiner lebendigen Seele, nicht einmal Benke.
    Und er würde die ganze Schachtel mit den Tabletten und Vaters zwei Pillen wegwerfen. Sie unter einem Stein draußen im Wald vergraben, falls es Probleme gab. Falls Vater richtig krank wurde oder so. Niemand würde jedenfalls auch nur das Geringste erfahren. Er musste innerlich kichern, als er daran dachte, aber das Kichern war vorüber, als sie jetzt in die Küche kamen. Vater und Vivianne, und plötzlich saßen sie alle vier am Tisch. Vater machte irgendwelche Witze darüber, was der verrückte Holger gesagt oder getan hatte, Mutter lachte, Vivianne goss sich wie immer zu viel Milch über ihre Cornflakes, und dann warf sich Vater die Tabletten in den Mund und spülte sie mit einem Schluck Stachelbeersaft hinunter.
    Er verzog leicht das Gesicht, aber das tat er immer. Es war vollbracht. Ein Schauer fuhr ihm das Rückgrat hinunter, und als Vater fragte, ob er traurig sei, dass er nicht mit nach Rödtjärn fahren konnte, antwortete er nur, dass er an die Schule denken müsse. Dass es nicht möglich sei, mitten im Schuljahr drei Tage zu fehlen.
    Und Vater sagte, dass so ein richtiger Mann spreche, und alles war Friede, Freude, Eierkuchen in der sonnigen Küche bei der heiligen Familie.
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