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Einsamen

Einsamen

Titel: Einsamen
Autoren: H Nesser
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waren nicht mehr als zwei Markierungen in der Ewigkeit. Ich hatte das Gefühl, auch Gott würde uns den Rücken zukehren, was ich nicht erwartet hatte. Ich fragte Germund, ob er freiwillig springen wolle oder es vorziehe, wenn ich ihn erschieße. Wissen Sie, was er ge-
tan hat?«
    »Nein«, sagte Barbarotti.
    Ein Schauer durchfuhr Berglund. »Er … er sah mich an … sah mir direkt in die Augen, und ich konnte an seinem Blick nichts ablesen. Keine Angst. Keine Reue. Keine Trauer … nicht das Geringste. Es dauerte nur wenige Sekunden, dann drehte er sich auf dem Absatz um, blieb einen kurzen Moment ganz vorn an der Kante stehen, bis er dann einen Schritt nach vorn machte. Direkt ins Nichts hinein, es war nur ein leiser, dumpfer Laut zu hören, als er aufprallte. Ich spürte, wie plötzlich etwas in mir zerbrach, ich glaubte, mich übergeben zu müssen, aber irgendwie bekam ich mich wieder in den Griff. Kehrte zum Auto zurück und fuhr direkt ins Krankenhaus. Anna schlief, ich musste eine Stunde warten, bis sie aufwachte, und dann erzählte ich es ihr. Das ist … ja, das ist alles.«
    »Alles?«
    »Ja.«
    Barbarotti blieb eine Weile reglos sitzen, schaute aus dem Fenster. Es hatte angefangen zu regnen, und der Zweig eines Baums berührte die Fensterscheibe, der Wind schien böig zu sein. Er wandte seinen Blick auf das Aufnahmegerät, in dem das Band sich immer noch drehte. In dem Rickard Berglunds trauriges Geständnis sicher dokumentiert war für jegliche gewünschte Zukunft. Was vollkommen belanglos erschien.
    »Sie haben ihn nicht gestoßen?«, fragte er trotzdem.
    Berglund schüttelte den Kopf. Barbarotti zeigte auf das Aufnahmegerät.
    »Nein«, sagte Berglund. »Ich habe ihn nicht gestoßen.«
    »Haben Sie ihn mit der Pistole bedroht?«
    »Nein. Das war nicht nötig.«
    »Und wenn er nicht von allein gesprungen wäre, was hätten Sie dann getan?«
    Berglund zögerte höchstens eine Sekunde lang. »Ich hätte ihn erschossen. Natürlich war es mir lieber, so, wie es gekommen ist, aber in diesem Punkt soll kein Missverständnis aufkommen. Ich übernehme die volle Verantwortung für Germund Grooths Tod. Das war die moralischste Handlung, die ich in meinem ganzen Leben ausgeführt habe, das können Sie mir nicht nehmen. Verstehen Sie?«
    »Ich verstehe«, sagte Barbarotti. »Es ist nur im Hinblick auf das, was Ihnen jetzt bevorsteht …«
    »Es gibt nichts, was mir bevorsteht«, warf Rickard Berglund ein. »Noch eins, bevor wir fertig sind. Wir haben nie Kinder bekommen, Anna und ich.«
    »Ich weiß«, sagte Barbarotti. »Wollten Sie denn …?«
    »Sie hat eine Abtreibung vornehmen lassen«, unterbrach Berglund ihn. »Im Frühling 1975. Also im selben Jahr, aber das habe ich erst dreißig Jahre später erfahren. Und nach dieser Abtreibung ist sie nie wieder schwanger geworden.«
    Er verstummte und betrachtete Barbarotti auf der anderen Seite des Tisches. Sein Blick flackerte leicht, ein Bein begann zu zucken. Ich habe das hier nicht mehr unter Kontrolle, dachte Barbarotti. Ich nicht, und er auch nicht.
    »Sie meinen …«, sagte er. »Sie meinen, dass sie ein Kind von ihm erwartet hat, von Germund Grooth, und dass er nicht wollte, dass …?
    Er brach ab. Berglund hatte die Waffe aufgenommen, dieses Mal nur mit einer Hand; das sah plötzlich ganz natürlich aus, und Barbarotti registrierte, dass in seinem Kopf ein Ton brummte.
    »Im Gegenteil«, sagte Rickard Berglund mit einer unendlichen Müdigkeit in der Stimme. »Es war mein Kind, und deshalb wollte sie es nicht haben. Heute ist Dienstag.«
    Und mit einer unerwartet schnellen Bewegung richtete er den Revolverlauf auf sein rechtes Ohr und drückte ab.

72
    D er Himmel war grauweiß und undurchdringlich. Ein kalter Wind aus Nordwest fegte über das offene, ausgehobene Gelände, und die niedrige Steinmauer, die den Friedhof von Rödåkra umgab, bot nur wenig Schutz. Die Luft roch nach Schnee. Barbarotti fror und war froh, dass Marianne beschlossen hatte, nicht mitzukommen. Es gab keinen Grund dafür, dass sie auf einem windigen Friedhof stehen und einen ehemaligen Pfarrer auf dem Weg zur letzten Ruhe begleiten sollte.
    Absolut keinen Grund. Es genügte mit Backman und ihm selbst. Eine Handvoll anderer Menschen natürlich auch noch; der jetzige Pfarrer und Linderholm, zwei ältere Frauen, die mehr als zwanzig Jahre lang mit Berglund in der Gemeinde zusammengearbeitet hatten, sowie ein kleiner, gebeugter Herr in den Sechzigern, von dem Barbarotti keine Ahnung hatte,
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