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Die Wall Street ist auch nur eine Straße

Die Wall Street ist auch nur eine Straße

Titel: Die Wall Street ist auch nur eine Straße
Autoren: Jim Rogers
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1. Porträt des Investors als junger Mann
    Meine Heimatstadt Demopolis liegt mitten in Alabama, dort, wo der Black Warrior River in den Tombigbee River mündet. Sie ist die größte Stadt im Marengo County und befindet sich mittendrin in einer Region, die Teile von Alabama, Georgia und Mississippi umfasst und historisch als Black Belt bekannt ist. Man nennt sie so, weil es dort reichen und fruchtbaren Ackerboden gibt, der 200 Jahre lang das Wachstum riesiger Baumwollplantagen gefördert hat. Manche von ihnen überlebten die Abschaffung der Sklaverei, aber keine überlebte den Rüsselkäfer, der die Samenkapseln der Pflanzen absterben ließ.
    Als ich ein kleiner Junge war, gruben meine Freunde und ich in dieser Erde nach Ködern, und dann verbrachten wir den Rest des Tages mit Angeln. Katzenwelse sind Allesfresser und beißen auf fast alles, das sie riechen können. Sie können auch fast alles riechen, und an einem heißen Sommertag sind Würmer leichter zu finden als Grillen. Ich war ungefähr acht Jahre alt und wir gruben im Garten unseres Hauses nach Würmern. Da machte mein Cousin Wade, etwa zehn Monate älter als ich, eine Bemerkung, mit der ich damals überhaupt nichts anfangen konnte, die mir aber bis heute im Gedächtnis geblieben ist, als wäre es gestern gewesen.
    »Wenn wir weiterbuddeln, kommen wir irgendwann bis nach China.«
    Ich wusste damals schon, dass die Erde eine Kugel ist, aber erst als ich einen Globus zur Verfügung hatte – ich war schon damals ein begeisterter Forscher – konnte ich die Tatsache wirklich würdigen, dass direkt gegenüber von Alabama, auf der anderen Seite des Planeten, die riesige Landmasse der Volksrepublik lag. Bedeckt mit Dreck und Schweiß würde ich tatsächlich dort wieder ans Tageslicht kommen, wenn ich nur die Energie aufbrächte, immer weiter zu graben.
    Seither sind Jahrzehnte vergangen, mein Leben ist nicht ganz so geradlinig verlaufen, aber heute lebe ich tatsächlich an der Schwelle zu China. Und ich habe zwei kleine Töchter mit blauen Augen und blonden Haaren, die Mandarin ebenso fließend sprechen wie Englisch.
    Wie kam es dazu, dass ich heute in Singapur lebe? Auch das hat etwas mit Graben zu tun, wenn auch auf andere Weise; nicht ganz so mühsam, aber nicht mit weniger Energie. Es ist die Folge meiner unermüdlichen Anstrengungen, aus erster Hand zu erfahren, wie die Welt funktioniert, die wahren Zusammenhänge zu ermitteln – und zwar nur für mich selbst.
    Ich bin zweimal rund um die Welt gereist; einmal auf einem Motorrad, einmal in einem Auto. Ich habe sie von Grund auf studiert, habe in diesen fünf Jahren die sich verändernden Umstände in mehr als 100 Ländern aufgezeichnet. Aus meiner Sicht kann man die Geschichte und ihre Folgen nicht vom Lehnstuhl aus verstehen. Man muss an der Quelle forschen. Für mich hat sich das als sehr lohnend erwiesen; sowohl persönlich als auch materiell. Und es musste wohl so kommen, dass ich nun hier gelandet bin. Weit weg vom ländlichen Alabama, stattdessen im größtenteils chinesisch geprägten Außenposten am südlichen Ende der Malaiischen Halbinsel.
    Wenn die Geschichte etwas bestätigt, dann ist es die von den alten Griechen vertretene Meinung, das einzig Beständige sei der Wandel. Der geistige Vater dieses Gedankens war der Philosoph Heraklit, der im 6. Jahrhundert vor Christus erklärte, es sei unmöglich, zweimal in denselben Fluss zu steigen. Der Erfolg im Leben wird an der Fähigkeit gemessen, Veränderungen zu antizipieren. Mein Umzug nach Singapur war die Reaktion auf meine Feststellung, dass die Welt mitten in einer historischen Wende steckte, in einer dramatischen Veränderung der Rahmenbedingungen, gekennzeichnet von einem allmählichen Verlust der amerikanischen Führungsrolle und andererseits dem Aufstieg Asiens.
    Ich schreibe dies inmitten einer weltweiten Finanzkrise. Die meisten Politiker versichern Ihnen, diese Krise sei ein vorübergehendes Phänomen. Man sagt uns, die Dinge würden wieder besser werden. Damit will ich mich gar nicht auseinandersetzen. Ich erachte es als meine Aufgabe, Ihnen zu sagen: Es ist unwahrscheinlich, dass sich die Dinge während Ihrer Lebenszeit auf Dauer zum Besseren wenden werden. Die unglaublichen Schuldenlasten in vielen Ländern werden die Art, wie wir alle leben und arbeiten, massiv verändern. Viele alte Institutionen, Traditionen, politische Parteien, Regierungen, Kulturen und sogar Nationen werden einen Niedergang erleben, sogar zusammenbrechen oder einfach
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