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Vier Zeiten - Erinnerungen

Titel: Vier Zeiten - Erinnerungen
Autoren: Richard von Weizsäcker
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Vier Zeiten zum Geleit
    Als meine Tochter mit mir über mein der Erinnerung geltendes Buch sprach, riet sie in einer spontanen Regung davon ab, es nach dem zu Ende gehenden Jahrhundert zu betiteln. Für junge Menschen beginnt die Welt stets von neuem, zumal an der Schwelle zur kommenden Zeitrechnung. Sie wissen sehr wohl, daß sie nicht wurzellos herangewachsen sind. Aber was nun kommt, wollen sie selbst in die Hand nehmen. Das ist ein gutes Zeichen ihres Lebenswillens.
    Gilt also, was Rilke empfahl: »Sei allem Abschied voran, als wäre er hinter Dir, wie der Winter, der eben geht«? Als wäre er hinter Dir - ganz so ist es nicht. Jahreszeiten der Natur haben sowenig eine Stunde Null wie die Zeitfolgen in der Geschichte. Beider Zukunft ist schon in der Vergangenheit enthalten. Niemand entgeht diesem Zusammenhang. Deshalb erinnern wir uns.
    Dabei erfahren wir aus der Geschichte nicht, was wir morgen tun sollen. Sie hält keine Handlungsanweisungen für uns bereit. Jacob Burckhardts Zuspruch, Geschichte mache »den Menschen nicht klug für ein andermal, sondern weise für immer«, klingt in unseren Ohren heute befremdlich. Der große Skeptiker hatte den Weg unseres Jahrhunderts nicht vorhergesehen. Doch auch an dessen Ende würde er uns wohl ans Herz legen, seine Aussage nicht zu überhören, vielleicht nun erst recht nicht.
    Das zwanzigste Jahrhundert hat uns in extreme Lagen menschlicher Existenz geführt. Seine Prüfungen machen es
schwer und legen es um so eher nahe, über bewußt erlebte Vergangenheit Rechenschaft abzulegen. Den Jungen wird das in ihrer eigenen Meinung nicht vorgreifen. Wenn Erziehung und Weitergabe von Erfahrung einen Sinn haben sollen, dann gehört dazu, die junge Generation in ihrer geistigen Freiheit zu bestärken. Sie sollen das Zutrauen finden, den eigenen Augen, Gefühlen und Werten Glauben zu schenken. Für ihre Kraft, sich selbst zu entscheiden, wird ihnen aber die gewissenhafte Einsicht helfen, daß eine Zukunft auf sie wartet, in der ziemlich viel von der Vergangenheit wirksam sein wird. Ein Geschichtsverständnis muß weiter zurückreichen als die eigene Biographie.
    Was ich hier aufschreibe, ist kein Geschichtsbuch, sondern ein persönlicher Bericht über ein aus der Familie kommendes und in sie eingebettetes Leben. Ihrer Einstellung entsprach es, sich aktiv an den allgemeinen Aufgaben ihrer Zeit zu beteiligen. Immer wieder waren ihre Erlebnisse mit der historischen Entwicklung verknüpft. So war es auch bei mir. Bei meiner Schilderung kann ich daher das eine vom anderen nicht säuberlich trennen. Dennoch geht es mir weniger um generelle Analysen als vielmehr um die Wiedergabe eigener Eindrücke und konkreter Begebenheiten.
    Mein Weg führte mich durch vier Zeiten unseres Jahrhunderts, die ich aus meinem Blickwinkel kurz charakterisieren will: Weimarer Republik - Hitler und Weltkrieg - Teilung Europas und Deutschlands in der bipolaren Welt - Vereinigung.

I.
    Die dramatischen Jahre der Weimarer Republik erlebte ich als wohlbehütetes Kind zu Hause, zumeist in Berlin. Mein Großvater hatte seine landespolitisch führende Tätigkeit in Württemberg beendet. Mein Vater war als Diplomat vorwiegend mit Fragen
des Völkerbunds beschäftigt. Die außerordentliche kulturelle Kreativität des zu einer europäischen Metropole herangewachsenen Berlin überstieg in dieser Zeit meiner ersten sieben Schuljahre meinen Horizont bei weitem. Aber die politische Ruhelosigkeit und die sozialen Spannungen waren uns Schülern deutlich bewußt. Ohne die Ereignisse in ihrem Zusammenhang zu begreifen, diskutierten wir sie auf dem Schulhof mit kindlichem Temperament. Als Zwölfjähriger lernte ich, täglich zweimal eifrig und neugierig Zeitung zu lesen.

II.
    Dies war auch mein Alter, als Hitler an die Macht kam. Die folgenden Jahre verbrachte ich wegen des Diplomatenberufs meines Vaters fast ganz im Ausland. Nach Deutschland kehrte ich 1938 zurück, um meinen Wehrdienst abzuleisten. Bald darauf brach der Krieg aus; sieben Jahre lang war ich Soldat.
    Es herrschte eine Dämonie, die wir nicht begriffen. Unsere ethischen Maßstäbe, mit denen wir aufgewachsen waren, reichten an sie nicht heran. Wir blickten in Abgründe und gerieten, bewußt oder unbewußt, in sie hinein.
    Unausweichlich und notwendig bleibt es, daß jede heranwachsende Generation, gerade weil ihre eigenen Erfahrungen und Urteilskriterien mit jener Zeit so unvergleichbar sind, immer von neuem forschend fragt, wie es zu den ungeheuerlichen
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