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Einsamen

Einsamen

Titel: Einsamen
Autoren: H Nesser
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hegte einen fast physischen Widerwillen gegen Demonstrationen aller Art. Aufgehetzte Volksmengen, gegrölte Parolen und platte Demagogie machten ihm Angst. Mit der Hippiebewegung, der Popmusik und all den langhaarigen Freiheitskämpfern ging es ihm ähnlich. Irgendwie betraf ihn das nicht. Rickard Berglund hoffte, oder besser gesagt, er ging eigentlich davon aus, das Gegengift gegen all diese Geißeln der Zeit in einer Umgebung zu finden, in der klassische Bildung und Tradition regierten. Die Alma Mater, jerum, jerum … mit der Zeit, dachte er, mit der Zeit werde ich in dieser Stadt schon Fuß
fassen.
    Er las den kurzen Text auf dem Einberufungsbescheid zum hundertsten Mal.
    Ort: AUS /Armee-Unteroffiziersschule, Dag Hammar- skjölds väg 36, bei der Wache melden.
    Zeit : Montag, 9. Juni 1969, zwischen 13.00 und 21.00 Uhr.
    Dauer der Ausbildung : Fünfzehn Monate.
    Entlassungstag: 28. August 1970.
    Als Rickard Berglund sich all diese Zeit vorzustellen versuchte, all diese Tage mit ihrem vollkommen unbekannten Inhalt und den unbekannten Voraussetzungen, zog sich etwas in seiner Kehle zusammen. Wenn er das nicht bekämpfte, konnte es sehr wohl explodieren, das fühlte er.
    Vielleicht würde er es nicht aushalten?
    Vielleicht würden sie ihn schon nach ein paar Wochen zurück nach Hova schicken? Woher sollte man wissen, ob man dazu taugte?
    Oder ihn auf einen ganz anderen Posten in einem ganz anderen Regiment irgendwo im Land versetzen? Das wäre eine noch größere Schmach. In dem Informationsmaterial, das er bekommen hatte, stand, dass so etwas möglich war. Zehn bis fünfzehn Prozent derjenigen, die für die Stabsausbildung ausgesucht wurden, gingen diesem Schicksal entgegen. Und wenn er nun in Boden landete? Oder in Karlsborg? Uppsala war ein Gewinnlos in der Musterungslotterie gewesen, aber jetzt hieß es, das Glück nicht leichtsinnig zu vertun … Er seufzte und machte sich klar, dass es genau solche trübsinnigen Gedankengänge waren, in die er nicht mehr hatte verfallen wollen.
    Denn der Plan stand fest. Fünfzehn Monate Militärdienst auf der Stabs- und Offiziersschule, dann diverse Semester Theologie, vier oder fünf Jahre, das musste die Zeit weisen. Anschließend die Priesterweihe und hinaus aufs Land, um das Wort zu verkünden.
    So einfach war das.
    Wenn man elf Monate bei der Lapidus Beton AG durchgehalten hatte, dann schaffte man fast alles. Es war Onkel Torsten gewesen, der ihn drei Tage nach dem Abitur zur Armierung geholt hatte, und wie immer es um die Bildung im sonstigen Hova-Gullspång stand, so war er jedenfalls garantiert der Einzige bei Lapidus, der in den Kaffeepausen Hjalmar Bergman und Bunyan las.
    Es hatte die eine oder andere Stichelei gegeben, aber das war jetzt vorbei. Er hatte sowohl die Betonindustrie als auch sein Elternhaus in der Fimbulgatan hinter sich gelassen. Und sein Kinderzimmer, in dem er gewohnt hatte, solange er sich erinnern konnte. Seine Mutter hatte am Morgen in der Küche versucht, gegen die Tränen anzukämpfen, aber es war ihr nicht gelungen.
    Du lässt mich allein, Rickard, hatte sie geschluchzt. Aber so muss es sein, und vergiss nicht, dass es immer einen Weg zurück in dein Elternhaus gibt.
    Das hatte sie sich natürlich schon vorher zurechtgelegt, und es hatte geklungen wie ein alter Spruch auf einem gestickten Stoffband über einer Küchenbank. Nach dem Tod des Pastors hatte sie immer häufiger angefangen, so zu reden, und tief in seinem Inneren schämte er sich über das Gefühl von Freiheit, das in ihm aufstieg, sobald er durch die Tür gegangen war.
    Ein Freiheitsempfinden, wenn man zum Militär sollte? Das war wohl etwas, das man lieber nicht laut aussprach, aber genau dieses Gefühl hatte ihn erfüllt. Heute beginnt mein Leben wirklich! Er hatte sich den ganzen Frühling auf dieses Datum gefreut, und während er nun hier saß und diese unbekannten Enten, diese unbekannten Schwäne und diese unbekannten Menschen betrachtete, Letztere auf dem Bürgersteig vorbeiflanierend, da dachte er, dass er niemals – was immer auch in seinem Leben geschehen würde, was immer auch aus seinem großen Plan werden würde – dass er niemals diesen Moment vergessen würde. In der Konditorei Fågelsången in Uppsala mitten am Tag des 9. Juni 1969. Er konnte sich vorstellen, jedes Jahr genau zu diesem Datum hierherzukommen, sich hinzusetzen und ein wenig zu philosophieren, an Vergangenes und Zukünftiges zu denken und …
    Hier wurde sein Gedankenstrom jäh durch einen Schatten
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