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Süchtig

Titel: Süchtig
Autoren: Matt Richtel
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    Vermutlich kündigt sich der Augenblick, in dem das eigene Leben auseinanderzubrechen beginnt, nicht unbedingt feierlich an. Möglicherweise nimmt man nur ein leises Knistern wahr. In meinem Fall war es ein Paukenschlag.
    Ich erinnere mich vor allem an Einzelheiten: den überschüssigen Milchschaum, der außen an meinem Caffè Mocha herunterlief. Das Paar, das sich nicht einigen konnte, ob es den Entsafter auf seine Hochzeitswunschliste setzen sollte. Den vor dem Café angebundenen Rottweiler, der sich auf die Hinterbeine gestellt hatte und die Vorderpfoten gegen die Fensterscheibe presste.
    Als sie vorüberging, las ich gerade die langatmige Beschreibung eines Bostoner Flusses, die ich mit schlechtem Gewissen nur überflog, um schneller zur eigentlichen Handlung des Buches zurückzukehren. Sie wäre mir gar nicht aufgefallen, hätte sie nicht ein zu einem kleinen Viereck zusammengefaltetes Papier auf eine Ecke meines Tisches gelegt. Ich registrierte elegante Hände und einen Ring am Zeigefinger. Dann konzentrierte ich mich auf das Papier. War das ein Annäherungsversuch?
    Als ich aufsah, war sie fast schon zur Tür hinaus.
Ihre Bewegungen wirkten entschlossen, und sie sah sich nicht um. Ich knickte eine Seite in meinem Buch ein, griff nach der zusammengefalteten Botschaft und folgte ihr.
    Mit den Blicken suchte ich die Straße nach ihr ab. Die hippen Yuppies, die neuerdings den Marina District von San Francisco bevölkern, genossen, mit Designer-Sonnenbrille und Designer-Kinderwagen bewaffnet, den strahlenden Julinachmittag. Durch die Menge hindurch sah ich, dass sie schon halb in einen roten Saab eingestiegen war, der vor dem Pita-Imbiss parkte.
    Etwas hielt mich davon ab, ihr nachzurufen. Eigentlich wollte ich sie aufhalten, aber sie war losgefahren, bevor ich mich bemerkbar machen konnte, ohne Aufsehen zu erregen. Ich warf einen Blick auf das strukturierte beigefarbene Briefpapier auf meiner Handfläche. Als ich es auseinanderfaltete, brüllten mir die Worte geradezu entgegen:
    »Raus aus dem Café – SOFORT!«
    Dann explodierte das Lokal.

    Rauch. Heulende Autoalarmanlagen. Glas, Asche, eine Staubwolke. In meinem Kopf dröhnte es, als wäre ein Güterzug darüber hinweggebraust. Ich glaube nicht, dass ich ohnmächtig wurde. Die Druckwelle schleuderte mich einen Meter hoch in die Luft, setzte mich aber unversehrt wieder auf dem Asphalt ab.
    Ich habe Aufnahmen aus Kriegsgebieten gesehen, die mich an den Weltuntergang denken ließen. Was hier geschehen war, ließ sich nicht damit vergleichen. Es war ein einziger Augenblick brutaler Gewalt, der alles in seinen Dunst hüllte – mehr nicht. Eine blutige Version des
Wutausbruchs, bei dem mein Vater einen Edelstahltopf auf den Küchenboden geschmettert hatte, damit mein Bruder ihm endlich zuhörte.
    Die Frontscheibe des Cafés war nach außen gedrückt worden, und in einer Seitenwand klafften Risse, die den Blick auf Metall und Beton freigaben. Ein Paar wankte aus der Tür. Ein Arm des Mannes hing schlaff herunter, und die blutüberströmten Beine der Frau wollten sie kaum tragen. Der Besitzer des Rottweilers suchte seinen Liebling nach Verletzungen ab.
    Terroranschlag – das ist heutzutage in einem solchen Augenblick der erste Gedanke.
    Ich dagegen dachte sofort an Annie.
    Obwohl der Unfall, bei dem sie mit achtundzwanzig ums Leben gekommen war, bereits vier Jahre zurücklag, war sie für mich ständig präsent. Vor allem in Augenblicken des Übergangs – wenn ich aufstand, zu Bett ging oder auf den langen Fahrten zwischen Interviews. Das war bezeichnend für mich, aber auch für unsere Beziehung. In diesen ruhigen Momenten, in denen es dem Leben an Struktur fehlte, brauchte ich am dringendsten einen Orientierungspunkt.
    Ich möchte meine Beziehung zu Annie nicht als vollkommen hinstellen, aber für mich war und blieb sie der Inbegriff der Liebe. Unsere Küsse hatten nach den Gewürzbonbons geschmeckt, die Annie ständig lutschte. Wenn ich Zimt roch, wurde ich traurig. Manchmal erzählte ich einer imaginären Annie nachts laut Geschichten und versuchte zu erraten, wann sie mich schläfrig gebeten hätte, endlich Ruhe zu geben.
    Aber es war nicht nur die Sehnsucht nach ihr, die mich an sie denken ließ, während sich eine dünne Staubschicht
auf mich legte. Es war die Nachricht, die mir die Unbekannte hinterlassen hatte. Ich hätte Annies Handschrift unter Tausenden erkannt.

    »Können Sie die Beine bewegen?«
    Wie durch einen Nebel drangen die Worte des neben
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