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Einsamen

Einsamen

Titel: Einsamen
Autoren: H Nesser
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Erinnerung auf.
    Aber dann mit schwindelerregenden Schlussfolgerungen. Ich träume, dachte Elis Bengtsson. Es ist nicht möglich, dass die gleiche Geschichte noch einmal passiert.
    Einen Augenblick lang schwindelte ihn, und es war nur Glück, dass gleich am Rand ein Birkenschössling wuchs, denn wenn Elis Bengtsson den nicht gepackt hätte, wäre es gut möglich gewesen, dass auch er seine Tage in der Gänseschlucht beendet hätte.
    »Was sagst du da?«
    »Ich sage, du sollst die Polizei anrufen. Es liegt ein toter Mensch in der Gåsaklyftan.«
    »Noch einer?«, fragte Märta.
    »Noch einer«, bestätigte Elis. »Aber das letzte Mal ist fünfunddreißig Jahre her.«
    »Herr im Himmel«, sagte Märta.
    »Ruf die Polizei an und sieh zu, dass sie herkommen«, sagte Elis. »Und beeil dich. Luther und ich bleiben hier und passen auf. Und deinen Arzttermin kannst du vergessen für heute.«
    »Aber Elis, der Arzttermin ist morgen. Heute ist doch Sonntag.«
    »Ist heute Sonntag?«
    »Ja.«
    »Na, ist ja wohl egal, welcher Tag heute ist. Tu jetzt bitte ausnahmsweise mal, was ich dir sage, und ruf die Polizei an.«
    »Ja, ja«, sagte Märta. »Aber sag mir eins, wenn du es so eilig hast, warum hast du die Polizei nicht schon selbst angerufen?«
    »Weil ich nur ein Handy habe«, antwortete Elis wütend. »Und man redet mit der Polizei nicht mit einem Handy.«
    »Ich verstehe«, sagte Märta, und dann drückte er sie weg.
    Weiber, dachte er.
    »Halt die Schnauze, Luther!«, rief er dann. »Ich komme
runter.«
    Und aus irgendeinem Grund verstummte der Hund.

3
    N achdem Gunilla Rysth die ersten zwanzig Kilometer auf der E18 zwischen Karlstad und Örebro zurückgelegt hatte, fuhr sie auf einen Parkplatz und blieb eine ganze Weile vollkommen reglos hinter dem Lenkrad sitzen. Das war nötig. Wäre sie weitergefahren, hätte es ein Ende mit Schrecken nehmen können. Man konnte nicht autofahren und gleichzeitig Rotz und Wasser heulen. Wenn man sich nicht totfahren wollte, und das wollte sie nun wahrlich nicht.
    Trotz allem.
    Obwohl, bevor sie diesen Rastplatz gefunden hatte – ein kurzes Stück vor Kristinehamn –, hatte sie mit dem Gedanken gespielt, das schon. Aber nur gespielt, eine Art verzweifelte Flucht vor ihrem schlechten Gewissen und der schrecklichen Schuld, die sie auf sich geladen hatte, indem sie einen anderen Menschen zugrunde gerichtet hatte.
    Lennart war am Boden zerstört gewesen, man konnte es nicht anders sagen. In den letzten fünf Minuten ihres Gesprächs hatte er nicht ein Wort gesagt, nur dagesessen und sie mit einem Blick angesehen, den man nur mit waidwund umschreiben konnte. Ein Tier, das sie erlegt hatte und das jetzt, während es verblutete, die stumme Frage nach dem Warum? an sie richtete.
    Hat er nicht genau so ausgesehen?, dachte sie. Ja, genau so war es gewesen.
    Warum? Was habe ich dir Böses getan?
    Ich liebe dich doch. Wir lieben uns. Wir wollten doch zusammen leben.
    Vier Jahre und ein bisschen mehr. Fast genau fünfzig Monate waren sie zusammen gewesen; die ersten zwanzig, oder waren es sogar dreißig?, hatte er ihr jedes Mal zur Erinnerung eine Rose geschenkt. Es hatte in der zweiten Klasse des Gymnasiums angefangen, es war ein Fünftel ihres Lebens, ein Fünftel seines Lebens.
    Er war der Erste, den sie geküsst hatte, der Erste, mit dem sie geschlafen hatte. Aber nicht der Einzige. Und sie war die Erste und die Einzige, die er geküsst und geliebt hatte. Daran bestand kein Zweifel. Absolut keiner.
    Er wird sich das Leben nehmen.
    Es war dieser Gedanke, der unter all ihren Tränen pochte. Er wird es nicht schaffen.
    Er wird sich für den Tod entscheiden.
    Und sie saß auf dem Rastplatz vor Kristinehamn und weinte und weinte.
    Drei Monate hatte sie ihre Entscheidung aufgeschoben.
    Seit Ostern. Da hatte sie Tomas kennengelernt, bei diesem schicksalsträchtigen Chortreffen in Östersund. Nichts Böses ahnend, wie es hieß, war sie mit Kristina, ihrer Freundin seit Kindesbeinen, hingefahren. Bereits am Abend des zweiten Tages hatte Tomas sie geküsst und ihr gesagt, dass sie gar keine andere Wahl hätten. Sie waren füreinander bestimmt, es stand in den Sternen, er war sich noch nie in seinem Leben einer Sache so sicher gewesen.
    Es war wie in einem Kitschroman gelaufen. Wenn sie es in einer Illustrierten gelesen hätte, hätte sie nur verächtlich geschnaubt, weitergeblättert und nicht eine Sekunde mehr darauf verschwendet.
    In der nächsten Nacht waren sie in ein Ferienhaus eingebrochen und
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