Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Einsamen

Einsamen

Titel: Einsamen
Autoren: H Nesser
Vom Netzwerk:
schweren Türen zum Heiligtum waren sorgfältig geschlossen und lagen im Schatten. Er beschloss, nicht hineinzugehen – oder hatte es bereits beschlossen, als er im Zug den Plan für diesen Tag gemacht hatte. Es war zu früh. Zuerst wollte er das Gebäude von außen betrachten, diese mächtige, leicht bedrohlich wirkende Architektur: außerdem das Dekanhaus finden, in dem die Theologie ihren Sitz haben sollte, das musste wohl der große, viereckige Klotz südlich der Kirche sein … oder war es westlich? Er war sich der Himmelsrichtungen bereits nicht mehr sicher … und das deutlich friedlichere Kirchengebäude dort hinten war natürlich die Dreifaltigkeitskirche. Im Volksmund »Die Bauernkirche« genannt. Rickard Berglund hatte die wichtigsten Sehenswürdigkeiten in dem Bildband Uppsala früher und heute , den er im April von seiner Mutter zum zwanzigsten Geburtstag bekommen hatte, gründlich studiert. Sie war mit seinem Lebensplan genauso zufrieden wie er selbst, und manchmal wunderte er sich über die Selbstverständlichkeit und fehlenden Einwände, was seine Zukunftsaussichten betraf. War es wirklich so einfach? Sollte es nicht zumindest Alternativen geben, die man verwerfen konnte?
    Er ging am Dekanhaus vorbei, um die Bauernkirche herum und kam über eine Treppe und einen kurzen Abhang hinunter in die Drottninggatan. Rechts oben konnte er die imposante Bibliothek sehen, und noch weiter oben auf dem Hügel war durch das Laub der Bäume das Schloss zu erahnen. Dort oben blühten noch Traubenkirsche und Flieder, es war ein später, zögerlicher Frühling gewesen, und er war einfach hingerissen. Er überquerte die Drottninggatan, ging eine Straße weiter, die passenderweise Nedre Slottsgatan, Untere Schlossgasse, hieß, und erreichte schließlich eine Konditorei, genau gegenüber einem künstlich angelegten länglichen Teich. Stockenten, ein paar Schwäne und einige andere unbekannte Wasservögel schwammen in gemütlicher Frühlingsträgheit herum, so sah es zumindest aus. Gewiss sein konnte man sich dessen natürlich nicht. Er bestellte sich ein Kännchen Kaffee, ein Brot mit Käse und eines mit Mettwurst – auch das gehörte zu seinem Plan, wie er sich erinnerte, zufrieden darüber, dass er all diese einleitenden Schritte so einfach und elegant hinter sich gebracht hatte. Er hatte nicht ein einziges Mal nach dem Weg fragen müssen, dennoch hatte er sich fast alles, was er sich vorgenommen hatte, einverleibt: den Fluss Fyris. Dom und Theologikum. Gustavianum und Universitätsgebäude. Carolina Rediviva, das Schloss aus der Entfernung sowie eine Konditorei mit Außenterrasse. Einverleibt.
    Es war erst Viertel nach zwölf. Er biss von seinem Brot ab, trank einen Schluck Kaffee und holte den Einberufungsbescheid aus der Seitentasche seiner Reisetasche. Zögerte einen Moment, dann zog er auch das dicke Buch heraus und legte es vorsichtig auf den Tisch, nachdem er sorgfältig überprüft hatte, ob es auch sauber war. Ausgewählte Schriften. Sören Kierke-
gaard. Im Zug hatte er gut vierzig Seiten gelesen, und jetzt stellte er noch einmal die gleichen Überlegungen an wie schon daheim an der Bushaltestelle von Hova. In Hova gab es wahrscheinlich keinen einzigen Menschen, der Kierkegaard gelesen hatte. Und jetzt in Uppsala, um wie viele mochte es sich hier handeln? Hunderte? Tausende?
    Und die anderen? Schopenhauer. Nietzsche. Kant. All die modernen Philosophen nicht zu vergessen … Althusser, Marcuse und wie sie hießen. Es war ein ansprechender Gedanke, dass es in dieser Stadt gut möglich war, jemand am Nachbartisch in einer Konditorei wie dieser oder in der Schlange im Supermarkt zu finden, der sich sowohl mit Hegel als auch mit Sartre beschäftigt hatte.
    Rickard Berglund hatte einen Kanon, eine Leseliste mit all den Autoren, mit denen er im kommenden Jahr Bekanntschaft schließen wollte. Bevor er sich ernsthaft der Theologie widmete. Vielleicht sollte er auch mal bei Marx und Lenin reinschauen, um sich zu orientieren. Nichts Menschliches sei dir fremd, das hatte Grundenius ihnen einzuschärfen versucht … und auch nicht viel Unmenschliches. Wenn du deinen Gegner nicht studierst, wirst du ihn niemals besiegen können.
    Rickard glaubte nicht an den Kommunismus. Der Krieg der USA dort hinten in Vietnam war sicher in vielerlei Hinsicht ungerecht, aber das war nicht die ganze Wahrheit. Stalin hatte mehr Menschenleben auf dem Gewissen als Hitler, da brauchte man nur in den Geschichtsbüchern nachlesen, und Rickard
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher