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Das Verheissene Land

Titel: Das Verheissene Land
Autoren: Andreas Bull-Hansen
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noch Schnee, doch er glaubte, dass dieser in ein paar Tagen fort sein würde. Denn in der ganzen Stadt tropfte es von den Dächern, und über die große Straße, die zum Turm hinaufführte, rann das Schmelzwasser. Ganz oben auf dem Hügel konnte er Visikals Burg durch die nackten Zweige des kleinen Wäldchens erkennen und er sah den Bach, der zwischen den Büschen hervortrat und durch den mit Schieferplatten ausgekleideten Graben durch die Stadt floss.
    Der Alte stützte sich auf seine Krücke, denn eine Böe schlug gegen seinen Rücken. Der Wind wehte in Richtung Stadt, zerrte an den Haaren der Frauen und an den Umhängen der Männer und ließ die Tücher, die über die Buden der Händler gespannt waren, flattern. Der Tang, der auf Stöcken unter den Dächern zum Trocknen aufgehängt worden war, leckte wie gewaltige Zungen schwer hin und her. Irgendwo schlug eine Tür zu. Selbst an Tagen wie diesem, da die Oberfläche des Meeres kaum gekräuselt war, konnten plötzliche Böen die Stadt überraschen. Das erstaunte ihn nicht, denn der Schärengarten dort draußen vermochte selbst den kleinsten Wind abzulenken und wie eine Faust Gottes in Richtung Land zu jagen.
    Der Einbeinige stellte die Krücke vor sich und humpelte weiter. Er blickte in die Sonne, die jetzt über dem großen Turm im Westen der Stadt stand. Der Tag ging bald vorüber, und er wusste kaum noch, was er getan hatte. Nach dem Aufwachen hatte er weiter an seiner Karte gearbeitet, dann hatte er mit Hagdar gesprochen, doch der Rest des Tages war irgendwie davongeronnen. Die Zeit ist ein seltsames und gnadenloses Geschöpf, dachte er. Jetzt, da er alt war und sie am dringendsten nötig hatte, verging sie derart rasch, dass er kaum mitkam.
    Als der Einbeinige das Ende der Mole erreichte, kletterte er den Steinwall hinunter und stapfte weiter. Er war bis zum letzten Anleger gekommen, auf dem noch immer die spitzen Boote seines Volkes lagen, kieloben. Insgesamt waren es elf. Es waren gute Boote, fand der Alte, jedes von ihnen drei Mann lang und mit schweren Kielbalken versehen. Am Bug von einem der Boote schob er den Schnee mit seinem Fuß weg. Der Vogelkopf am Ende des Bugstevens war fein herausgeschnitzt worden. Es war sein eigenes Boot. Er selbst hatte einen Tierkopf in jeden der Bugsteven geschnitzt. Bran und Dielan hatten einen Wolf bekommen und Hagdar einen Bären. Doch das würde auch nicht helfen, wenn das Meer im Westen so wild war, wie es die Tirganer behaupteten.
    Der Einbeinige ging zwischen den Booten weiter. An einem blieb er stehen, beugte sich vor und kratzte mit dem Fingernagel zwischen den Bootsplanken. Dann schüttelte er den Kopf, holte tief Luft und humpelte weiter. Er ging an einer Reihe Häuser vorbei, die sich alle Richtung Meer wandten. Ruder standen aufrecht an den niedrigen Steinwänden und Netze trockneten über den Balken, die unter den Dächern aus der Wand ragten. Der Geruch von Tang und Trockenfisch hing über der Stadt, und der Einbeinige blieb stehen und sog diesen Duft des Lebens ein. Er lehnte die Krücke gegen seine Brust und blinzelte in die Abendsonne. Der Frühling war die Zeit des Jahres, die er am liebsten hatte. Es war die Zeit, in der alles Leben heranwuchs. In der Felsenburg wurden dann die Lämmer geboren und die Männer ließen die Schafherden die Hügel emporwandern.
    Er ließ seinen Blick über die Häuser und Straßen schweifen. Die Sonne warf einen goldenen Schimmer über die Stadt, so dass die Steinwände, die den ganzen Winter über eisig und grau verharrt hatten, aufglühten. Die Schieferplatten auf den Straßen, die Möwen auf den Dächern und der Tang über den Dachbalken hatten jetzt etwas Warmes. Auch den Menschen in den Straßen war es anzusehen, denn sie gingen nicht mehr vor Kälte gebeugt. Die Frauen hatten die Kapuzen nach hinten in den Nacken geschoben und ließen den Wind mit ihren Haaren spielen und ihre Kleider waren weiß und rein. Die Wachen oben auf Cernunnos Turm dösten hinter blanken Brustplatten, und jedes Mal, wenn sie sich bewegten, warfen die langen Äxte ihren Lichtschein über die Straßen nach unten.
    Erneut schob sich der Einbeinige die Krücke unter die Achseln und humpelte weiter. Er war jetzt in den Hafen gekommen und der gepflasterte Platz zwischen den Häusern und den steinernen Kaimauern war voller Händler, Säcke, Taurollen und Stäbe. Seeleute rollten Tonnen und maßen Seillängen ab und überall war Lachen und Rufen zu hören. Ein paar Jungs sprangen zwischen den
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