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Wintermörder - Roman

Titel: Wintermörder - Roman
Autoren: Wilhelm-Goldmann-Verlag
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    Als der Nachrichtensprecher an diesem Sonntagabend im Januar von »Russenkälte« sprach, schaltete Henriette Winkler den Fernseher aus und griff mit zittriger Hand nach dem Bordeaux, der seit vierzig Jahren direkt aus Frankreich geliefert wurde.
    Da war sie wieder, diese Unruhe, die sie Abend für Abend überfiel. Immer dieses Gefühl, etwas vergessen zu haben. Und die Angst, die sie nicht loswurde. Nacht für Nacht dieser grauenhafte Traum, in dem sie durch einen langen Tunnel lief und Menschen begegnete, die schon längst gestorben waren.
    Um sich abzulenken, schlug sie energisch den Deckel des Flügels nach oben, lehnte den Stock daneben und setzte sich. Chopin, Polonaise fis-Moll, op. 44.
    Sie schlug die erste Taste an, doch die Finger rutschten ab, so sehr zitterten ihre Hände. Sie sollte sich damit abfinden, dass sie kein Klavier mehr spielen konnte, und es nicht Abend für Abend versuchen. Wie sie sich damit abfinden musste, dass sie nicht mehr arbeiten konnte. Seit Monaten hatte sie das Haus nicht mehr verlassen, weil sie so unsicher auf den Beinen war, dass sie Angst hatte zu stürzen.
    Und wie ihre zunehmende Hilflosigkeit sie erbitterte, machte sie auch die Stille, die im Haus herrschte, ungeduldig.
    Sie erhob sich vom Klavierstuhl, um hinüber zum Regal zu gehen. Ihre Hand griff unwillkürlich nach der Aufnahme von Chopins Balladen von Artur Rubinstein aus dem Jahr 1960. Sie hatte sie jeden Abend gehört, wenn sie vom Büro nach Hause gekommen war. Sie mochte seine klaren, entschiedenen Melodien, den perfekten, pointierten Rhythmus. Doch dann entschied sie sich anders. Sie brauchte jetzt Stimmen, die den Raum füllten, die zu ihr sprachen, damit sie vergessen konnte.
    Denise hatte ihr zu Weihnachten einen CD-Player geschenkt, den zu benutzen sie sich weigerte, obwohl die Musik reiner und klarer klang. Aber die Stimmen der Sänger waren ihr fremd. Sie brauchte die Callas. Die Callas war mit ihr gealtert. Keine junge, energiegeladene Stimme, oder die lebendige Schönheit einer Anna Netrebko konnte die Callas ersetzen. Sie brauchte das Rauschen der Schelllackplatten.
    Schließlich entschied sie sich für Tannhäuser. Der Geigen wegen, und natürlich das Lied über den Abendstern, das zu der Januarnacht passte. Wagner hatte es immer geschafft, ihre Ängste zu bändigen. Vorsichtig nahm sie die Schallplatte aus der Hülle. Sie aufzulegen war eine Kunst, wenn die Hand zitterte. Die Nadel rutschte ab. Sie musste sich konzentrieren. Die linke Hand hielt die rechte fest, bis die Nadel auf der Platte auftraf.
    Rauschen.
    Die Ouvertüre.
    Es war Viertel nach neun.
    Sie griff nach dem Stock, ging hinüber zu dem Ledersessel und setzte sich. Das Holz im Kamin glühte nur noch. Als sie ein neues Scheit in die Glut warf, schoss eine kleine Flamme nach oben, griff jedoch nicht auf das Holz über. Ungeduldig stocherte sie mit dem Schürhaken in der Glut, bis es endlich Feuer fing. Eine Weile schaute sie zu, dann erhob sie sich nervös, um zu prüfen, ob die Terrassentür wirklich verschlossen war.
    Durch die Scheibe sah Henriette den Vollmond, den Sieger über eine sternklare Nacht. Noch vor wenigen Tagen hatten der Nebel und die Regenfälle an den November erinnert. Jetzt kam verspätet der Frost. Das Außenthermometer zeigte bereits zwölf Grad unter null. Die Arme verschränkt, starrte sie auf den dunklen Garten. Wenn die Vorhersagen eintrafen, würden die Temperaturen weiter fallen. Auf minus achtzehn Grad.
    Sie konnte froh sein, dass Denise Oliver geheiratet hatte, ohne den die Firma verloren wäre. Und es war gut, dass er den Namen Winkler angenommen hatte. Wenigstens noch einer in der Familie hatte Mut und Visionen für das Große. Er würde die Firma in das 21. Jahrhundert führen. Für seinen Sohn und ihren Urenkel Frederik.
    Etwas riss Henriette aus den Gedanken.
    Wie lange stand sie schon hier?
    Hatte sie schon vorher gespürt, dass etwas anders war? Bevor sie das Geräusch hörte? War es überhaupt ein Geräusch gewesen? Oder etwas anderes? Hatte etwas anderes sie aus den Gedanken gerissen als Schritte im Kies?
    Nein, bei dieser Kälte trieben sich keine Tiere im Garten herum.
    Henriette wandte sich um, ging zum Flügel, holte die Brille und kehrte zur Terrassentür zurück.
    Das Mondlicht war weiß. Wie gefroren. Sie konnte zunächst nichts erkennen. Ihre Hand griff zum Rollo. Doch bevor sie es herunterließ, bemerkte sie wieder etwas.
    Eine Bewegung.
    Dort hinten am Gartenhaus. Jemand stand davor. Nicht
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