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Wintermörder - Roman

Titel: Wintermörder - Roman
Autoren: Wilhelm-Goldmann-Verlag
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auf, bis ihr plötzlich der Atem vor Kälte stockte. Eine Hand griff nach ihren Lungen, presste sie fest zusammen, bis sie sich hustend in die Nachtluft entluden. Gleichzeitig lief das Blut die Kehle hinunter. Ihr wurde eiskalt. Sie begann zu zittern. Die Zähne klapperten im Takt ihres Herzschlags, im Takt der Hände, die keine Ruhe fanden.
    Wieder war er über ihr. Warum bog er ihre Finger auseinander? Wütend schloss sich ihre Hand. Die Finger krallten sich in den Stoff des Rockes. Während sie so dalag, wurde die Zeit zu einem schwarzen Tuch, auf dem Schatten auf und ab tanzten. Sie fühlte deutlich den Spott, und es war ihr peinlich, dass sie beobachtet wurde.
    Ihr Mund war trocken. Immer wieder fuhr die Zunge über die Lippen, um sie feucht zu halten.
    »Durst«, stöhnte sie. Keine Antwort.
    Sie zog den Rock nach oben, um sich zu befreien und abzukühlen, während langsam und unmerklich die Kälte ihr Leben auffraß. Henriette Winkler spielte Klavier. Die Polonaise fis-Moll, op. 44. Ihr Finger berührte die Fis-Taste. Doch jemand war schneller, kam ihr zuvor. Ärgerlich schaute sie zur Seite. Es war Denise, deren Hände sich nach dem Schlusstakt hoben. In der Luft hing ein Hauch von Schwermut.
    Dann blieb ihr nur noch die Kraft, die Augen offen zu halten und auf den hellen Mond zu starren.
    Nein, kein Licht am Ende des Tunnels. Eher ein Loch.
    Ein helles Loch am dunklen Himmel.
    Es beruhigte nicht und es war auch nicht schön.
    Doch nun war es zu spät, um zu beten.

Zofia
Mittwoch, 31. Dezember 1941, Krakau
    Die Krähen tauchten auf, nachdem mein Vater auf offener Straße erschossen worden war. Seitdem sitzen sie Tag für Tag auf den Dächern, auf den Fenstersimsen, in den kahlen Bäumen. Als ob alle, die verschwunden sind, sich in Krähen verwandelt haben und in deren Gestalt in die Stadt zurückkehren.
    Nach den Lebensmitteln, der Seife und Hautcreme sollen wir jetzt auch Pelze, warme Stiefel, Handschuhe und Mützen bis fünf Uhr in den Tuchhallen abliefern. Meine Mutter ist darüber so erbittert, dass sie im Bett bleibt und sagt, sie wird erst wieder aufstehen, wenn alles vorbei ist. Daher muss ich gehen. Auf der Grodzkastraße sucht eine Schar Krähen im Müll nach Essbarem. Da sitzen sie mitten im Dreck, und als ich an ihnen vorbeigehe, putzen sie gleichgültig ihr schwarzes Gefieder, das glänzt wie die Nacht, die im Winter schon am frühen Nachmittag hereinbricht.
    Als ich zu Hause bin, erzählt meine Mutter, dass am nächsten Tag Schreibmaschinen und Grammophone abgeholt werden. Also vergrabe ich die Schreibmaschine unter den Kohlen im Keller. Leszek will mir dabei helfen, doch ich schicke ihn nach oben, als er nicht aufhört zu husten. Am Abend hat er Fieber und möchte, dass ich ihm wieder die Geschichte von den sieben Raben vorlese.
    Es ist spät, als ich zu Bett gehe. Kurz nachdem ich eingeschlafen bin, werde ich durch ein Brummen geweckt. Unruhe auf der Straße. Ich springe auf und beobachte durch die Verdunkelung eine lange Kolonne Lastwagen, auf denen Soldaten mit Helm und in voller Ausrüstung sitzen. Sie sind völlig mit Schnee bedeckt und sehen aus wie Gespenster.
    Ich bin dreizehn, und es ist Krieg.

Sechs Tage

2
    Wie immer verließ Staatsanwältin Myriam Singer auch an diesem Montag den Gerichtssaal mit dem Gefühl, erfolgreich gewesen zu sein. Nicht nur das. Sie war unantastbar.
    Aus diesem Hochgefühl wurde sie durch das Klingeln des Handys gerissen. Die Verbindung war schlecht. Sinnloserweise versuchte sie das zu ändern, indem sie das Telefon fest an ihr Ohr presste. Doch dann merkte sie, dass es nicht am Netz oder der veralteten Technik ihres Handys lag, sondern am hessischen Dialekt von Hauptkommissar Henri Liebler. Der Mann neigte zur Schlampigkeit, nicht nur was die Kleidung betraf. Dennoch zog Myriam es vor, mit ihm zusammenzuarbeiten und nicht mit seinem Kollegen Ron Fischer. Dieser neigte nämlich seit der Geburt der Zwillinge vor einem halben Jahr dazu, schnell die Geduld zu verlieren.
    »Liebler«, schrie der Hauptkommissar erneut.
    »Ja, ja, das habe ich schon verstanden. Wo sind Sie denn? Ich dachte, Sie sind in Urlaub?«
    »Klar, Frau Staatsanwältin«, lachte er laut. »Ich stehe hier auf den Bahamas, in Badehose vor einer Leiche.«
    Genervt verdrehte Myriam die Augen und seufzte innerlich. Sie hatte keine Ahnung, weshalb Liebler ausgerechnet an sie seine Ironie verschwendete, da sie doch allgemein als humorlos galt. »Was ist los?«
    »Sie wollten doch immer jeden Tatort
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