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Wintermörder - Roman

Titel: Wintermörder - Roman
Autoren: Wilhelm-Goldmann-Verlag
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mit Ihren eisblauen Augen sehen, oder …« Die letzten Worte verloren sich in den Löchern des Mobilfunknetzes von D2 Vodafon.
    Natürlich wäre es einfacher, sie würde Lieblers Bericht abwarten. Doch manche Urteile könnten anders ausfallen, würden sich Richter, Anwälte und Staatsanwälte die Tatorte anschauen, um den Opfern in die Augen zu blicken. Tatortfotos waren nur ein Abklatsch der Realität. Man sollte die Toten selbst gesehen haben. Kundenkontakt hatte ihr Strafrechtsprofessor das ironisch genannt.
    Lieblers Stimme meldete sich erneut. Mit Mühe verstand sie, was er sagte: »Sie sollten so schnell wie möglich hier erscheinen, bevor die Leiche im Plastikbeutel verschwindet.«
    »Wo sind Sie?«
    »Kennedyallee 23. Hier wohnt der Bauunternehmer Winkler.«
    Für einen Moment schwieg sie. Henri Liebler wartete in einem Haus auf sie, das Myriam Singer kannte. Ein leichtes Gefühl von Panik machte sich in ihr breit.
    »Sind Sie noch dran?«, hörte sie ihn jetzt schreien.
    »Ja.«
    Nervös sah sie auf die Uhr. »Die Presse wartet auf mich im Foyer. Dr. Veit soll warten.«
    »Die Leiche hat ja Zeit«, schrie Liebler erneut ins Telefon, »aber Veit nicht. Der friert sich den Arsch ab, sagt er, und er braucht ihn noch. Ich frag mich nur, wofür. Der kann doch sowieso keine fünf Minuten auf einem Stuhl sitzen bleiben.«
    Myriam Singer zog eine Grimasse. Lieblers Humor war nicht immer ihr Niveau. »Er soll noch ein paar Minuten durchhalten. Ich komme in jedem Fall.«
    »Na denn«, hörte sie Liebler noch, bevor seine Stimme endgültig in ein Zischen überging, wie es nicht einmal sein Dialekt zustande brachte.
    Myriam Singer war Staatsanwältin aus Berufung. Das Gesetz und sie waren Seelenverwandte. Für die meisten war die Sprache der Juristen so leidenschaftslos wie die lateinische Klassifikation der Säugetiere. Doch Myriam liebte sie, die Spitzfindigkeiten des Gesetzes. Provokant verkündete sie immer wieder, dass ein Wort wie Tötung in der juristischen Sprachwelt mehr Bedeutungen aufwies, als sogar ein Goethe hineinlegen könnte. Bei dieser Auffassung war es leicht zu verstehen, dass man ihr Hybris nachsagte. Außerdem nannte man sie hinter ihrem Rücken »eiserne Lady«.
    Andererseits bedeutete ein Spitznamen, dass man es geschafft hatte. Man wurde wahrgenommen. Respektiert.
    Okay, geliebt wurde sie nicht. Weder von Kollegen noch von gegnerischen Anwälten, schon gar nicht von der Polizei, von den Angeklagten ganz abgesehen, und ihr eigener Abteilungsleiter Hillmer hasste sie. Einzig die Richter schätzten sie, denn bei aller Leidenschaft waren ihre Plädoyers immer begründet und ersparten diesen bei der Urteilsfindung eine Menge Arbeit. Eine ganze Menge. Wie heute.
    Myriam zog die Robe zurecht, ein Kleidungsstück, das sich wirklich gelohnt hatte. Ebenso wie die extravaganten grünen Lackstiefel, die darunter hervorschauten. Richter Salm hatte sie misstrauisch beäugt. Der Anwalt der beiden Angeklagten hätte sie gerne gegen sie verwendet, doch wo im Strafgesetzbuch stand geschrieben, dass man unter der Robe keine grünen Lackstiefel tragen durfte?
    Myriam schob die Brille mit den Gläsern aus Fensterglas zurecht, die sie bei Verhandlungen trug, um konzentriert zu wirken. Sie hatte eine Technik entwickelt, sie in den Momenten auf- und abzusetzen, wenn sie gerade zum Höhepunkt ihres Plädoyers kam.
    Unglaublich. Höchststrafe!
    Ihre Beweisführung war stichhaltig gewesen und messerscharf. Sie hatte dem Strafgesetzbuch zu seinem Recht verholfen.
    Langsam schritt sie die Treppe hinunter, wo sich im Foyer die Frankfurter Presse nach dem Prinzip ihrer bewährten Truppenaufstellung aufgereiht hatte. Wie immer führte sich Udo Jost vom Privatsender NDNS — Neuer Deutscher Nachrichtensender – als Feldherr über seine Kollegen auf. Er musste gewaltig unter Druck stehen, so wie er sich jetzt den Schweiß von der Stirn wischte.
    »Sind Sie mit dem Urteil zufrieden?«, schrie er ihr entgegen.
    Mein Gott, er hielt ihr das Mikrofon so nahe ans Gesicht, als wollte er es in ihren Mund stoßen. Sie schob es mit der Hand fort und versuchte, an ihm vorbeizukommen. Er stank aus dem Mund nach halb verdautem Alkohol.
    »Der Richter ist meinem Antrag gefolgt.«
    Er rannte ihr nach.
    »Sie gelten als Hardlinerin unter den deutschen Staatsanwälten.«
    »Das ehrt mich.«
    »Zwei Jugendliche lebenslänglich hinter Gitter zu bringen ehrt Sie?«
    Sie blieb stehen und schob die Brille gerade.
    »Die beiden Täter waren zur
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