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Das Erbe der Königin - Gregory, P: Erbe der Königin - The Boleyn Inheritance

Das Erbe der Königin - Gregory, P: Erbe der Königin - The Boleyn Inheritance

Titel: Das Erbe der Königin - Gregory, P: Erbe der Königin - The Boleyn Inheritance
Autoren: Philippa Gregory
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J ANE B OLEYN , B LICKLING H ALL , N ORFOLK , J ULI 1539
 
    Heiß ist es heute. Über die Felder und Marschen trägt der Wind einen Pesthauch heran. Lebte mein Gemahl noch, so müssten wir bei dieser Hitze nicht im Haus hocken und eine bleierne Morgendämmerung oder einen stumpfroten Sonnenuntergang betrachten. Stattdessen würden wir den königlichen Hof auf seiner Sommerreise durch das Hügelland von Hampshire und Sussex begleiten, durch die schönsten und fruchtbarsten Landschaften Englands. Wir würden über Hügelkämme reiten und nach dem Meere Ausschau halten. Am Morgen würden wir auf die Jagd gehen, mittags unter dem dichten Baldachin der Bäume speisen und abends auf einem adeligen Landsitz im gelben Kerzenschein tanzen. Denn wir standen mit den mächtigsten Familien des Landes auf vertrautem Fuß, wir waren Günstlinge des Königs, Verwandte der Königin. Wir waren beliebt: wir, die Boleyns, die meistbeneidete und geistreichste Familie bei Hofe. Keine Frau konnte George erblicken, ohne sich in ihn zu verlieben, kein Mann vermochte Anne zu widerstehen - und alle schmeichelten mir als dem Torwächter zu ihrer Gunst. George mit seinen dunklen Haaren und Augen sah einfach blendend aus. Stets ritt er die besten Pferde und stets an der Seite der Königin. Anne befand sich auf dem Höhepunkt ihrer Schönheit, sie war geistreich und so verführerisch wie dunkler Honig. Und ich folgte den beiden, wohin sie auch gingen.
    Sie pflegten gemeinsam auszureiten: Schulter an Schulter stürmten sie dahin, und oft vernahm ich ihr Lachen, das lauter klang als die Hufe ihrer galoppierenden Pferde. Zuweilen, wenn ich sie zusammen sah - so prächtig, so begehrenswert -, wusste ich nicht, wen von beiden ich mehr liebte.
    Der ganze Hof war vernarrt in die beiden, in ihr verführerisches Aussehen, in ihre ausschweifende Lebensart. Sie waren Spieler, die das Risiko liebten, glühende Kirchenreformer, geübt in der Kunst des Streitgesprächs, und sie bevorzugten gewagte Lektüre. Vom König bis zur Küchenmagd gab es keinen Menschen bei Hofe, der von ihnen nicht geblendet war. Selbst jetzt, drei Jahre später, kann ich es immer noch nicht fassen, dass ich sie nie wiedersehen soll. Solche jungen, lebenslustigen Menschen können doch nicht so einfach sterben? In meiner Erinnerung jagen sie immer noch auf ihren Pferden dahin. Und warum sollte ich mich nicht nach der Vergangenheit zurücksehnen? Es ist doch erst drei Jahre her, seit ich sie zum letzten Mal sah: drei Jahre, zwei Monate und neun Tage, seit er mir lässig über die Hand strich, lächelte und zum Abschied sagte: »Einen guten Tag, Frau, ich muss gehen, ich habe heute so viel zu tun.« Es war ein Maimorgen, wir bereiteten das Turnier vor. Ich wusste, dass er und seine Schwester in Gefahr waren, doch ich wusste nicht, wie schlimm es stand.
    Jeden Tag in meinem neuen Leben wandere ich zur Wegkreuzung im Dorf, wo an der Straße nach London ein schmutziger Meilenstein steht. Die von Schlamm und Flechten überwucherten Buchstaben verkünden: ›London, 120 Meilen‹. Das ist so weit fort, so weit, weit fort. Jeden Tag beuge ich mich hinunter und berühre den Stein wie einen Talisman, und dann gehe ich zurück zu meines Vaters Haus, das mir, die ich in den größten Schlössern des Königs gelebt habe, nun allzu klein erscheint. Ich lebe dort von den Almosen meines Bruders, vom Wohlwollen seiner Frau, die sich keinen Deut um mich schert, und von einer Rente, die mir Thomas Cromwell zahlt, dieser Emporkömmling und Geldverleiher, der mittlerweile des Königs bester Freund ist. Ich bin die arme Nachbarin, die im Schatten des prächtigen Hauses lebt, das einst mein Eigen war, ein Boleyn-Haus, eines unserer vielen Häuser. Ich lebe zurückgezogen, bescheiden, eine Frau, die kein eigenes Haus hat und die kein Mann haben will.
    Das bin ich: Eine Frau von fast dreißig Jahren, mit einem von Enttäuschung gezeichneten Gesicht, Mutter eines abwesenden Sohnes, Witwe ohne Aussicht auf Wiederverheiratung, einzige Überlebende einer vom Unglück befallenen Familie, Erbin von Schmach und Schande.
    Mein Traum ist, dass diese Schande eines Tages vorübergeht. Dass ein Bote in Howard-Livree ebendiese Straße entlanggeritten kommt und mir einen Brief bringt, einen Brief des Herzogs von Norfolk, der mich an den Hof zurückbeordert, einen Brief, der mir mitteilt, dass ich wieder eine Aufgabe habe: den Dienst im innersten Zirkel einer Königin. Es gelte, Geheimnisse weiterzutragen und Intrigen
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