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Wintermörder - Roman

Titel: Wintermörder - Roman
Autoren: Wilhelm-Goldmann-Verlag
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schwarzer Samtpantoffel, dessen Absatz nach oben ragte. Der unnatürlichen Haltung, in der der Körper vor ihr lag, entnahm Myriam, dass zahlreiche Knochen sich unter der Haut verschoben hatten. Als hätte jemand eine Marionette achtlos fallen lassen, sodass die Fäden sich verwirrten. Dennoch erkannte sie in der missgebildeten, deformierten Gestalt sofort Henriette Winkler, Denise Winklers Großmutter. Der Wunsch, laut zu stöhnen, war so stark, dass sie die Zähne fest zusammenbiss. Unwillkürlich hielt sie sich die Hand vor den Mund.
    Dunkle Falten durchzogen das bläulich verfärbte Gesicht, in dessen Vertiefungen Wasser und Blut in der eiskalten Nacht gefroren waren. Wie auch der graue Rock und die weiße Bluse, die in bizarren Formen vom Körper abstanden. Unter dem Rock, bis zur Taille hochgeschoben, sah Myriam den Spitzenbesatz der Seidenstrümpfe, die knapp unter dem Mieder endeten. Es wirkte aufreizend, geradezu obszön. Ja, es schien, als seien die feingliedrigen, mit Altersflecken übersäten Hände in dem Moment in der nächtlichen Kälte erstarrt, als die alte Frau versucht hatte, den Rock wieder nach unten zu ziehen. Durch die dünne blasse Haut, die sich über den Knochen spannte, glaubte sie das deformierte Skelett zu erkennen.
    »Wurde sie vergewaltigt?«, fragte Myriam laut.
    Dr. Veit, der sich mit einem Föhn über die Leiche beugte, drehte sich abrupt um. Seine Nase war weiß von der Kälte, und die Hände steckten in dicken Handschuhen. Wie immer war sein Bart, nach den strengen Regeln des biologischen Landbaus gezüchtet, im Winter länger als im Sommer. »Wie kommst du denn darauf?«, fragte er. Veit hatte neuerdings die Angewohnheit, jeden zu duzen.
    »Der Rock wurde nach oben geschoben.«
    Er schüttelte den Kopf und fuhr fort, mit dem Föhn im Kreis zu laufen.
    »Vermutlich ist er nach oben gerutscht, als sie versucht hat, sich zu bewegen«, erklärte er.
    Myriam schaltete ihr Gehirn auf
sachlich
, ging in die Knie und betrachtete die Leiche wie einen weit entfernten Gegenstand. Es gab keinen Grund, sich vor dem Tod zu fürchten, und, redete sie sich ein, eine gefrorene Leiche hat etwas Hygienisches an sich. Zumindest war sie nicht ansteckend.
    »Was machen Sie da? Wollen Sie sie etwa … auftauen?«
    »Der Stoff ist am Boden festgefroren. Ich muss ihn von den Steinplatten lösen. Was den Körper betrifft – du weißt doch, wie lange es dauert, ein Tiefkühlhähnchen aufzutauen. Vor ein paar Stunden hätte ich es vielleicht noch geschafft, sie wieder ins Leben zurückzuholen. Da wäre sie allenfalls scheintot gewesen.«
    Er beugte sich hinunter, der Föhn surrte, bald würde aus der Leiche eine weiche Masse werden.
    »Scheintot?« Myriam erhob sich. »Ich dachte immer, dabei handelt es sich um ein Gruselmärchen.«
    Dr. Veit richtete erst den Föhn einige Minuten auf die weißen Hände, deren Knöchel geschwollen und verkrümmt waren wie bei Rheumakranken, bis er ihn ausschaltete, um zu antworten.
    »Mein Professor hat immer gern von der Frau auf dem Dresdner Friedhof erzählt. Die lag nach einem Selbstmordversuch stundenlang im Freien und wurde sofort für tot erklärt. Und dann, als der Bestatter gerade den Sargdeckel schließen will, hebt sie den Kopf.«
    Liebler befürchtete wohl nicht, dass Henriette Winkler den Kopf heben und ihm zuzwinkern könnte. Im Gegenteil, sein Mund verzog sich zu einem spöttischen Grinsen: »Glauben Sie ihm nicht. Henning erzählt gerne solche Geschichten.«
    »Vierzehn Stunden«, fuhr Dr. Veit ungerührt fort, »hat die Frau ohne Herzschlag bzw. Atmung überlebt.« Er schaltete den Föhn wieder an.
    »Sie ist also erfroren«, schrie Myriam.
    Der Föhn ging wieder aus. »Wollt ihr es genau wissen?«
    »Nein«, antwortete Henri.
    »Ja,« erwiderte Myriam, obwohl ihre Zähne bereits klapperten.
    »Der Mensch«, erklärte Dr. Veit, »ist ein Warmblütler, das heißt, für ihn ist eine konstante Körpertemperatur lebenswichtig, wobei sein Spielraum sehr gering ist. Sinkt die Temperatur unter 35 Grad, wird es gefährlich. Zunächst versucht der Körper noch, Wärme zu produzieren, einfach indem er zittert. Was allerdings zu Lasten der Durchblutung der äußeren Körperregionen geht. Ab 34 Grad beginnt das Erschöpfungsstadium, verbunden mit Wahnvorstellungen. Das Bewusstsein trübt immer mehr ein. Kälteidiotie nennen wir das. Wir haben leider nur wenig Berichte von Überlebenden.«
    »In der Tat«, bemerkte Liebler spöttisch, »eine höhere Überlebensrate bei
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