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Lauf, so weit du Kannst!

Lauf, so weit du Kannst!

Titel: Lauf, so weit du Kannst!
Autoren: Tim Bowler
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Hast du dich je gefragt, wo du landest, wenn du tot bist, Bigeyes? Dann pass gut auf. Denn ich war an diesem Ort. Und so unglaublich es klingen mag, ich bin immer noch dort.
    Und es könnte sein, dass ich nicht mehr zurückkomme.
    Das hängt nicht von mir ab. An diesem Ort bin ich machtlos. Da sind nur ich und der Tod. Und mit dem ist nicht zu spaßen. Er ist der Boss.
    Aber wie es dort ist? Ich werd’s dir sagen, Bigeyes.
    Also da sind keine Lichter oder himmlische Stimmen. Nichts dergleichen. Nur eine Menge Erinnerungen. Es ist genau so, wie die Leute sagen. Erinnerungen blitzen auf und rasen in Bildern an einem vorbei.
    Das passiert gerade. Ich sehe Leute, Orte und Dinge, die ich getan habe. Mein ganzes Leben läuft wie ein Film vor mir ab. Und das schmerzt.
    Denn ich will es gar nicht sehen.
    Jedenfalls das meiste nicht. Vielleicht ein paar Ausschnitte. Die Zeit mit Becky.
    Bring jetzt nichts durcheinander, Bigeyes, denn es gibt zwei Beckys. Eine liebe und eine fiese. Die erste ist die, die gestorben ist. Das ist die liebe Becky. Die zweite ist die, die hätte sterben sollen. Das ist die fiese Becky – die blöde Tussi.
    Die, die mir vorgemacht hat, die kleine Jaz wäre ihr Kind. Aber das war gelogen. Ich wüsste viele Namen für diese Tussi. Aber wir werden sie Bex nennen, okay? Damit in deinem Kopf keine Verwirrung entsteht, denn du kommst leicht durcheinander, stimmt’s, Bigeyes?
    Becky und Bex, der Schatz und die verlogene Tussi, kapiert?
    Ich hab Bilder der lieben Becky gesehen. Ihr schönes Gesicht, diese Augen. Ihr Haar hat immer geglänzt. Hab ich dir das schon gesagt? Und es hat irgendwie gut gerochen.
    Sogar an dem Tag, an dem sie gestorben ist, hat sie geduftet wie eine Blume. Und wie eine ausgesehen.
    Ich vermisse sie, Bigeyes. Ihr Bild ist das einzige, das ich sehen will. Aber ich kann mir die Erinnerungen nicht aussuchen. Ich muss auch die anderen über mich ergehen lassen. Sie prasseln auf mich ein wie ein Platzregen. Der Tod gönnt mir keine Pause.
    Und da ist noch was.
    Was ich sehe, ergibt keinen rechten Sinn. Es ist komisch, Bigeyes. All diese Erinnerungen, all diese Bilder sind verschwommen. Ich dachte, im Wartezimmer des Todes wäre alles klar.
    Aber nichts ist klar. Ich sehe Dinge, an die ich mich erinnere, doch ich erinnere mich nicht. Klingt absurd, was? Es sind Erinnerungen, die eigentlich keine sind. Dinge, die ich getan, aber vergessen habe.
    Besonders das frühe Zeug.
    Das ist wirklich schlecht zu sehen. Ich sehe Bruchstücke, aber das meiste ist irgendwie undeutlich, als wäre es fast eine Erinnerung, aber doch nicht ganz. Vielleicht ist das sogar gut. Ich habe mich nie gern erinnert.
    Aber wenigstens kommt alles in der richtigen Reihenfolge, ohne Zeitsprünge. Es beginnt mit Tag eins. Und da ist schon das erste Problem. Denn der erste Tag ist nur ein Schatten. Ich kann mich nicht an ihn erinnern. Ich kann ihn nicht klar sehen. Aber ich kann ihn spüren. Und das ist das zweite Problem.
    Denn ich sage dir, das war ein Tag voller Ärger.
    So war es, Bigeyes. Der Ärger begann bereits am ersten Tag.
    Frag mich nicht, wie ich das weiß.
    Es kommen immer mehr Bilder. Das erste Lebensjahr, dann das zweite, das dritte und so weiter. Ich mag die Bilder nicht sehen, aber es kommen ständig neue. Sie hören einfach nicht auf. Der Tod ist wirklich gemein.
    Das siebte Lebensjahr.
    Ich stehe auf dem Fußgängerüberweg, halte den ganzen Verkehr auf und beschimpfe die Autofahrer. Alles läuft noch mal vor mir ab. Doch es kommt mir irgendwie anders vor, als ich es in Erinnerung habe. Was daran anders ist, bin ich.
    Ich bin anders.
    Denn ich bin in dieser Szene nicht nur ein siebenjähriges Kind. Ich bin ein Kind, das sieben Jahre gelebt hat. Und das ist keineswegs dasselbe. Nicht seit ich soeben diese sieben Jahre noch mal vorgeführt bekam und gesehen habe, was in ihnen los war, wer in ihnen vorkam und was in ihnen passiert ist.
    Auch im siebten Lebensjahr gibt es Schatten, Dinge, die ich nicht sehen kann, Dinge, die ich verdrängt habe, weil ich mich nicht an sie erinnern will. Oder vielleicht haben diese Dinge mich verdrängt. Keine Ahnung. Das macht keinen großen Unterschied.
    Es ist so oder so übel.
    Ich sehe dieses Kind auf dem Fußgängerüberweg, als würde ich jemanden beobachten, den ich vorher nicht kannte. Aber mir bleibt keine Zeit, darüber nachzudenken, denn es kommen bereits weitere
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