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Wie ich Schriftsteller wurde

Wie ich Schriftsteller wurde

Titel: Wie ich Schriftsteller wurde
Autoren: Norbert Golluch
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Körperfunktionen. Ein souveränes Grinsen
gefriert in meiner Mimik, mein Muskeltonus erreicht nie gekannte Agilität, ich
federe über das Bühnenpodest und höre mich sagen:
     
    „Guten Abend, Maybritt! Guten Abend auch, meine Damen und
Herren im Studio, ich freue mich, dass Sie ein wenig Zeit für mich haben.“
     
    Möglicherweise wäre auch Talkshow-Moderator mein Ding,
überlege ich kurz, verwerfe den Gedanken aber gleich wieder. Applaus brandet
auf, wir nehmen in der Sitzgruppe Platz.
     
    „Wie ich hörte, haben Sie ein Vorab-Exemplar Ihres heiß
erwarteten Buches ‚Klytämnestra Rache’ dabei’, beginnt Maybritt. „Würden Sie
mir vielleicht den ganz persönlichen Gefallen tun und zur Einstimmung ein paar
Zeilen daraus lesen …?“
     
    Sie bemerkt die ablehnende Haltung in meinem Gesicht, bei
aller Professionalität: darauf bin ich nicht vorbereitet. Ehe ich es verhindern
kann, nimmt sie mir das Buch aus der Hand. Die etwas provisorische Aufmachung
stört sie scheinbar nicht, schließlich handelt es sich ja noch nicht um ein
Exemplar aus der Druckauflage.
     
    „Sicher haben Sie in den letzten Tagen sehr viel gelesen,
ich nehme Ihnen das jetzt einmal ab …“ Sie blättert erratisch in dem Buch
herum, tappt dann mit einem rot lackierten Finger entschlossen auf eine Seite
und beginnt zu lesen. Ich befinde mich in Schockstarre.
     
    „Der
sanften Morgenwind deines Atems
    Weht
über den Strand meiner Brüste …“
     
    Bei aller Erstarrung bin ich erstaunt. Hätte dieses Buch
möglicherweise doch das Liebesleben mit Gerlinde bereichert, wenn wir es nur
gelesen hätten? Dann bin ich wieder im Augenblick gegenwärtig und zugleich in
Panik, denn ich weiß, dass ich das Geschehen hier ja sofort stoppen muss, will ich
nicht in einen Urheberrechtsprozess mit Anna Huhn verwickelt werden. Meine
Gedanken rasen. Wie sollte ich das bewerkstelligen? Sie unterbrechen und
schreien: Nein, dieses Gedicht ist gar nicht von mir, dieses Buch ist nur ein
Dummy und das alles ist ein großer Irrtum? Einen Herzanfall vortäuschen? In
diesem Augenblick greift der cortex biolecki ein:
     
    „Und die Muschel, die
du findest
    Wird zu Gold in
deinen Händen …“
     
    … fahre ich ebenso spontan wie souverän fort, während ich
mich vorbeuge und der Moderatorin das Buch wieder aus der Hand nehmen. Das
Studiopublikum ist wie hypnotisiert. Die Frauen blickten versonnen träumend ins
Leere, während die Männer sich die Lippen lecken und dem pornographischen
Hintersinn meiner Worte in lebhaften Vorstellungen nachspüren. Ein leises
Stöhnen aus dem Publikum dokumentiert die erregten Aktivitäten beider
Geschlechter. Da weiß ich, ich habe gesiegt.
     
    „Sie werden verstehen, dass ich nicht mehr …“ werfe ich mit
einem unwiderstehlichen Grinsen ein. Die Moderatorin blickt zu mir auf.
     
    „Danke, danke“, entgegnet sie. „Das war mehr als genug. Wenn
ich Ihnen noch eine persönliche Frage stellen dürfte: In wieweit hat Ihre
Beziehung zu Ihrer besonders liebevollen Mutter Ihren dichterischen Werdegang
beeinflusst? Man hört ja, dass Sie eine ausgesprochen harmonische Kindheit
verbracht haben …“
     
    Hatte ich das? Und woher wusste sie das? Mein Image als Dichter
war in Gefahr, die seelische Zerrissenheit usw., Sie wissen schon.
     
    „Nun ja, harmonische Kindheit, ich weiß nicht … Mein Vater
war Modelleisenbahner und Alkoholiker, und außerdem litt ich unmenschlich unter
der Dominanz meiner älteren Schwester, die schon im Kindergarten alles
unternahm, um mich vom künstlerischen Weg abzubringen, indem sie zum Beispiel
immer meine Wachsmalkreiden versteckte …“
     
    „Aber Sie waren sich, wie Ihr Biograf Benno Koslowski
gestern in einem Interview mit der ZEIT geäußert hat, bereits im Alter von zehn
Jahren sicher, dass nur der Weg des Schreibens für Sie infrage käme. Gibt es
noch Dokumente aus dieser Zeit?“
     
    „Nun, dass ist lange her, aber in meinem persönlichen Archiv
sind noch einige kleine Gedichte im Faksimile erhalten, die ich damals meiner
Klassenkameradin Mira zugeschoben habe, welche darauf mit begeisterten Ausrufen
des Entzückens reagierte…“
     
    Kurz gesagt: Es werden großartige Talkshow-Minuten. Wir
thematisieren noch meine sexuellen Vorlieben, meine psychopathische Episode und
das überaus emotionale Verhältnis meines Vaters zu seinem Borderline-Collie „Charley“,
der in der Mairevolte 1968 in Paris unter den Rädern eines Wasserwerfers ums
Leben kam, sowie meine blaue
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