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Weiskerns Nachlass

Weiskerns Nachlass

Titel: Weiskerns Nachlass
Autoren: Christoph Hein
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Peinlichkeit zu befreien. Als er den Zimmerschlüssel im Sekretariat abgibt, erkundigt er sich bei Sylvia, ob ihr der Name Doktor Konfus etwas sage. Sie lacht und meint, ja, den Namen habe sie häufiger gehört, doch er solle sich nichts daraus machen, alle Lehrer bekämen ihr Fett weg, das sei schon immer so gewesen. Dann fragt er, ob Schlösser noch etwas gesagt habe.
    »Ich habe von deinem Wutausbruch gehört«, sagt sie, »und ich finde, du hast recht. Das musste mal gesagt werden, sonst ändert sich hier nie etwas.«
    »Ändern? Hier wird sich nichts ändern, jedenfalls wird sich nichts verbessern, Sylvia. Ich hätte es mir auch sparen können.«
    Auf dem Heimweg kommt ihm immer wieder die kleine Lilly in den Sinn, dieses ausgekochte Biest. Er versucht sich an seine eigene Studentenzeit zu erinnernund überlegt, ob das auch damals schon gang und gäbe war, Zensuren für Geld oder Sex. Vielleicht gab es das damals, und er war nur zu naiv, hatte es nicht mitbekommen.
    Auch an diesem Abend ruft Henriette nicht an.

Einundzwanzig
    Am Tag bevor er nach Basel fliegt, kauft er für Henriette eine Schokolade in einem Dritte-Welt-Laden und schickt sie ihr mit der Post. Auf die beigelegte Karte schreibt er einen kurzen, einen sehr kurzen Gruß. Als er am Briefkasten steht, um den Brief einzuwerfen, schaut er auf die Armbanduhr und entschließt sich, ihr das kleine Geschenk selbst zu bringen. In ihrer Wohnung ist Licht zu sehen, zwei Zimmer sind erleuchtet. Er klingelt an der Haustür, als sie sich meldet, sagt er, er wolle nur etwas abgeben. Es vergehen ein paar Sekunden, bevor Henriette den Türöffner drückt und er das Haus betreten kann und hinaufgeht. Ihre Wohnungstür ist angelehnt, unschlüssig drückt er sie auf, schaut in den leeren Flur und tritt ein. Henriette kommt aus einem Zimmer und begrüßt ihn mit der Frage: »Waren wir verabredet?«
    Er entschuldigt sich nochmals, sagt, er werde sofort wieder gehen, und drückt ihr den verschlossenen Brief mit der Schokolade in die Hand.
    »Komm einen Moment rein«, sagt sie, »ich habe Besuch. Eine Freundin ist da.«
    Er zieht seine Jacke aus, hängt sie an einen Haken der Garderobe und folgt ihr ins Wohnzimmer. Es ist ein großer, ein riesiger Raum, der ihn an die Wohnung des Herrn von Stolzenberg erinnert. Ein langer und sehr schmaler Tisch und ein paar ledergepolsterte Stühle sind in der Mitte des Zimmers platziert, dem Kamin gegenüber steht eine breite Couch, davor ein Metalltisch. Henriettes Besucherin sitzt auf der Couch und nickt ihm zu, als er eintritt und ihr einen guten Abend wünscht. Henriette bittet ihn, sich zu ihnen zu setzen, er nimmt sich einen der Stühle und trägt ihn zur Couch, das angebotene Glas Wein akzeptiert er dankend. Die Freundin, sie heißt Carola, betrachtet ihn aufmerksam, aber schweigend. Sie ist eine schöne, schwarzhaarige Frau, etwas dünner als Henriette. Stolzenburg fällt auf, dass mehrere Knöpfe ihrer Bluse offen sind. Er bemüht sich, mit den beiden Frauen ins Gespräch zu kommen, aber weder Henriette noch Carola gehen auf seine Bemerkungen ein. Schließlich fragt er, ob sie ihm ihre Wohnung zeige, das Wohnzimmer sei beeindruckend. Henriette wirft einen kurzen Blick zu ihrer Freundin und erklärt, sie würde ihm die Wohnung bei einer passenderen Gelegenheit zeigen. Als Carola sich von der Couch erhebt und aus dem Zimmer geht, sagt er, er wolle nicht weiter stören, trinkt sein Glas aus und steht auf. Bei der Verabschiedung im Flur kommt Carola mit einem Käseteller aus der Küche, auf dem Weg ins Wohnzimmer. Beim Öffnen der Tür fällt das Messer vom Teller auf den Fußboden, Stolzenburg bückt sich, um das Messer aufzuheben, und gibt es Carola. Dabei berührt er sie leicht am Unterarm, sie zuckt zurück, als ob er sie verbrannt oder sie einen elektrischen Schlag erhalten habe. Stolzenburg schaut sie irritiert an, sie geht mit zusammengekniffenem Mund an ihm vorbei. Henriette hat es ebenfalls bemerkt, wünscht ihm aber lediglich eine gute Heimfahrt und folgt der Freundin ins Wohnzimmer, noch bevor er die Wohnungstür hinter sich zugezogen hat.
    Auf der Fahrt zur Wohnung verwünscht er seinenEinfall, unangemeldet bei Henriette zu erscheinen. Ihre Freundin, diese Carola, ist ihm unangenehm.
    Am nächsten Morgen muss er früh aufstehen, um zum Flughafen zu fahren. Diesmal fliegt er über Düsseldorf nach Basel, das spart ihm zwei volle Flugstunden, und er wird, wenn die Flieger pünktlich sind, sehr viel früher daheim sein.
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