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Weiskerns Nachlass

Weiskerns Nachlass

Titel: Weiskerns Nachlass
Autoren: Christoph Hein
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wenigen Sätzen auch von dem Betrugsversuch, nennt den Namen Conrad Aberte, erwähnt das Wiener Auktionshaus und berichtet von der Polizeiaktion, an der sich zu beteiligen er genötigt war. Bis zum Ende seiner Arbeit an der Ausgabe sei er, so führt er aus, unschlüssig gewesen, ob er diese Anekdote erzählen solle, ob sie in einem wissenschaftlichen Werk nicht fehl am Platz sei, aber der Verleger habe ihn gedrängt, sie imVorwort zu belassen, und er sei schließlich dem Wunsch von Jürgen Richter gefolgt, nachdem er in zwei Vorgesprächen mit Journalisten, darunter einem Rezensenten der »New York Review of Books« dieses Kriminalstück berichtet habe. Auf der letzten Seite stehen ein paar persönliche Worte des Dankes. Da wird Jürgen Richter gelobt, ihm ist das Erscheinen der Ausgabe zu danken, er hat das entscheidende Verdienst daran, dass diese Ausgabe endlich auf den Markt kommen konnte.
    Noch immer schaut er aus dem Fenster, starrt in die dahingleitenden Wolken. Plötzlich sieht er, wie einer der beiden Propeller aussetzt, und während er fassungslos auf die stillstehende Luftschraube starrt, setzt auch der zweite Propeller aus. Ihn erfasst Panik, Todesangst. Sein Mund ist wie ausgetrocknet. Er atmet heftig, er schwitzt. Das könnte das Ende sein, sagt er sich, das ist das Ende. Er will schreien, er öffnet den Mund, aber er bringt keinen Ton heraus. Sein Nachbar ruft nach dem Steward.
    »Sie wünschen?«
    Stolzenburg deutet auf das Kabinenfenster, schaut hinaus und erstarrt erneut. Keine starren Kreuze von stehengebliebenen Propellern sind zu sehen, an der Tragfläche sind überhaupt keine Propeller angebracht, vielmehr sind die Ausbuchtungen und Rundungen der beiden Strahltriebwerke zu erkennen. Es gibt keine Propeller, und es gibt keine stehengebliebenen Luftschrauben, alles war eine optische Täuschung, eine Fantasie seines überbeanspruchten Gehirns, er hatte geträumt, er hat einen Wachtraum gehabt, einen Albtraum. Ungläubig starrt er mit offenem Mund auf die beiden Düsen an der Tragfläche, er atmet tief durch.
    »Was wünschen Sie?«, fragt der Steward nochmals.
    Verwirrt und schweißnass sieht Stolzenburg ihn an.
    »Einen Wein. Geben Sie mir einen Wein. Bitte!«, bringt er schließlich heraus.
    »Sie wissen, dass unser Service kostenpflichtig ist? Sie müssen Snacks und Getränke bezahlen.«
    »Ich weiß, ich weiß. Ich muss alles bezahlen. Ich weiß nur nicht, wie«, sagt Stolzenburg erschöpft.
    Der Steward sieht ihn besorgt an. Dann beugt er sich zu ihm: »Ich könnte Ihnen ein Glas Wasser bringen. Ausnahmsweise kostenlos.«
    »Nein, ich will einen Wein. Und ich bezahle.«
    »Einen weißen? Einen roten?«
    »Einen Weißwein bitte.«
    »Ich habe einen Pinot Grigio, dreivierzig, und einen Riesling, vierzwanzig.«
    »Bringen Sie mir bitte einen Riesling. Und ein Wasser. Eine Flasche Wasser.«
    Der Steward nickt und geht nach vorn.
    »Alles wieder in Ordnung?«, fragt der Mann auf dem Nebensitz, der noch immer sein Glas umklammert.
    Stolzenburg nickt.
    »War Ihnen unwohl? Manche Leute haben Angst vorm Fliegen. Meine Frau, die kriegen Sie in kein Flugzeug. Die muss zehn Schlaftabletten schlucken, wenn es mal über den Ozean geht und sie nicht mit ihrem Zug fahren kann.«
    »Alles in Ordnung«, bestätigt Stolzenburg, »verzeihen Sie, ich habe wohl geträumt.«
    Er sieht auf die Tragfläche, auf die Strahltriebwerke, er versucht, einen klaren Kopf zu bekommen und zu begreifen, was soeben passiert ist, was er zu sehen gemeint, wieso er aussetzende Propeller wahrgenommen hat. DerSteward serviert ihm Wasser und Wein und ist offensichtlich erleichtert, als Stolzenburg seine Geldbörse aus der Jackentasche zieht und ihm einen Zehneuroschein reicht. Er gießt sich den Plastikbecher mit Wasser voll und trinkt ihn in einem Zug leer, dann gießt er Wein in den Becher und trinkt nochmals hastig. Er wirft einen Blick aus dem Fenster, auf die Tragfläche, auf die Strahltriebwerke, dann lehnt er sich zurück und schließt die Augen. Keine stehengebliebenen Propeller, keine Metallkreuze, alles in Ordnung, die Maschine fliegt ruhig, flog nie anders, kein Rütteln, kein Schütteln, ein ruhiger Flug und planmäßig verspätet. Kein Absturz, kein überraschendes Ende, keine endgültige Lösung, nichts Befreiendes. Nichts Befreiendes, wiederholt er im Kopf, wie schön und überraschend die Sprache ist, ihm war zuvor nie aufgefallen, dass im Befreienden unübersehbar das Ende steckt. Aber auch diese Hoffnung ist ihm
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