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Weiskerns Nachlass

Weiskerns Nachlass

Titel: Weiskerns Nachlass
Autoren: Christoph Hein
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Honorare eintrifft. Es ist gekommen, wie er es erwartet und wie eres nach der Ansicht von Klemens Gaede hat erhoffen sollen, es ist das erreichbare Optimum, das Nonplusultra, das das Finanzamt ihm zugestehen konnte, und nach der Meinung von Marions Cousin müsste er jetzt jubeln. Für die nächsten zwei Jahre, für mehr als zwei Jahre muss er Monat für Monat zweihundert Euro aufbringen, die er nicht hat, muss er für einen Fehler bezahlen, den das Amt und nicht er zu verantworten hat, muss er irgendwo einsparen, und er weiß nicht, wo er sich noch weiter einschränken könnte. Verbittert tritt er in die Pedale, herrscht seiner Meinung nach eine zu langsame ältere Frau, die den Fahrradweg quert, mit einem schrillen Rasseln der Fahrradklingel an und ist in seiner Verärgerung so leichtsinnig, einem Lieferwagen die Vorfahrt zu nehmen, so dass dieser laut kreischend bremsen muss, um ihn nicht vom Rad zu holen. Stolzenburg fährt weiter und dreht nicht einmal den Kopf zu ihm.
    In der Sektionssitzung kommt es zu einer Szene, die ihm im Nachhinein peinlich ist. Am Ende der Sitzung bittet ihn Schlösser um eine halbstündige Rede über das Theater der Shakespearezeit für das jährliche Treffen der ehemaligen Studenten der Universität, den sogenannten Alumni-Tag. Diese Veranstaltung ist vom ehemaligen Rektor eingeführt worden und alljährlich umfänglicher geworden, denn auch das neue Rektorat erhofft, mit diesem würdigen, ehrenvollen Fest die Spendenbereitschaft der erfolgreichen Absolventen anzuregen, um den Etat der Hochschule zu verbessern, und so sind im Lauf der Jahre neben dem Empfang durch den Rektor in Amtstracht und einem großen Essen mit den Honoratioren der Universität und der Stadt auch Führungenund Vorlesungen angeboten worden, von denen man hofft, sie könnten die früheren Studenten interessieren. Schlösser hat in der Sitzung gesagt, das Thema sei ihnen vom Rektorat vorgegeben und daher komme aus seiner Sicht nur ein Kollege in Frage, dabei hat er Stolzenburg angesehen, der leise aufgeseufzt und sich den Termin notiert hat. Es solle kein üblicher Vortrag werden, fährt Schlösser fort, Stolzenburg möge die unterschiedlichen, die sehr unterschiedlichen Vorlieben der werten Alumni bedenken, ein wenig Witz und Humor sei angebracht, denn schließlich wolle man die Gäste unterhalten und für eine großzügige Geste gewinnen. Er fügt hinzu, der gesamte Lehrkörper habe an diesem Tag in Bereitschaft zu stehen, es könne sein, dass sich an diesem Tag sehr kurzfristig für diesen oder jenen Kollegen eine zusätzliche Aufgabe ergebe.
    »Es ist der Tag der Alumni«, sagt Schlösser, »an dem Tag ist alles andere zweitrangig. Und ich verlasse mich auf euch.«
    Veronika macht einen Scherz, sie sagt, sie hoffe, es gebe an diesem wundervollen Tag auch einen wundervollen Bonus für alle Mitarbeiter, worauf Schlösser beiläufig erwidert, diese zusätzliche Leistung soll der Universität helfen und werde selbstverständlich nicht honoriert. Stolzenburg hebt die Hand und fragt erregt, ob das auch für seinen Vortrag gelte, immerhin müsse er einen Vortrag ausarbeiten. Schlösser bestätigt es, woraufhin Stolzenburg heftig protestiert und von Ausbeutung spricht. Als er die verwunderten Blicke der Kollegen bemerkt, ist er nicht mehr fähig oder bereit, sich zu bremsen. Mit der Faust schlägt er auf den Tisch und schreit, er könne nicht unentwegt für das Institut weitere, nicht-honorierte Arbeiten übernehmen. Mit hochrotem Gesicht schnauzt er Schlösser an, er habe nur eine halbe Stelle, er müsse sehen, wie er über die Runden komme, er jedenfalls, er habe es gründlich satt.
    »Ich bin am Ende meiner Kräfte«, schreit er, »und ich habe es satt. Ich habe es satt.«
    Vor Erregung verschluckt er sich und lässt sich hustend und erschöpft in den Stuhl zurückfallen.
    Nach seinem Ausbruch ist es für Sekunden still, keiner sieht Stolzenburg an, Schlösser schließt ermattet die Augen, alle sind von dem lautstarken Auftritt peinlich berührt. Dann meldet sich Manfred Krupfer, er bietet Schlösser an, den Vortrag zu übernehmen, er habe über Shakespeare promoviert, das eine und andere wisse er noch. Schlösser nickt, dankt ihm und fährt in der Tagesordnung fort. Keiner geht auf Stolzenburgs Wutausbruch ein, auch nach der Sitzung vermeiden es alle, ihn anzusprechen. Als Krupfer an ihm vorbeikommt, steht Stolzenburg auf und bedankt sich bei ihm.
    »Keine Ursache, Kollege«, sagt Krupfer, »ich kann Sie verstehen.
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