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Weiskerns Nachlass

Weiskerns Nachlass

Titel: Weiskerns Nachlass
Autoren: Christoph Hein
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Gelegentlich haben wir alle einmal die Nase voll. Beim nächsten Mal retten Sie mir den Arsch.«
    Stolzenburg verabschiedet sich von Schlösser, der nickt ihm kurz zu und betrachtet ihn verwundert. Ihm ist unbehaglich zu Mute, als er den Raum verlässt. Er hat sich gehen lassen, er hat die Kontrolle über sich verloren, andererseits, sagt er sich, hat er auch in der letzten Zeit viel um die Ohren gehabt, und die Wahrheit sollten alle einmal erfahren. Einmal muss man mit der Faust auf den Tisch schlagen, beruhigt er sich. Nur dass ihn Krupfer, ausgerechnet Manfred Krupfer aus dem Schlamassel holt und für ihn den Vortrag übernimmt, ist fatal. Esdemütigt ihn, dass ihm gerade dieser unangenehme, widerlich Kollege geholfen, dass er sich ausgerechnet bei einem Krupfer zu bedanken hat.
    Er setzt sich in die Bibliothek, um das Seminar für Basel vorzubereiten. Marion ist mit zwei Studenten beschäftigt und nickt ihm kurz zu. Als sie allein sind, kommt sie zu ihm und fragt nach Henriette.
    »Ich weiß nicht«, sagt er, »ich habe sie schon ein paar Tage nicht gesehen und nicht gesprochen. Hat sie etwas zu dir gesagt?«
    Marion schüttelt den Kopf: »Mach keine Dummheiten, Rüdiger. Sie ist meine beste Freundin.«
    »Ich mache keine Dummheiten, und ich weiß nicht, was ich falsch gemacht haben könnte. Ich soll sie nicht anrufen, aber sie meldet sich auch nicht bei mir. Vielleicht kannst du mit ihr sprechen. Nur, damit ich weiß, woran ich mit ihr bin.«
    Marion zuckt mit den Schultern: »Helfen kann ich euch nicht.«
    Zehn Minuten später zieht sie ihren Mantel über und verabschiedet sich von ihm.
    »Es täte mir leid, wenn es mit euch nicht klappt«, sagt sie, »Henriette hatte Pech mit Männern. Sie ist argwöhnisch geworden, misstrauisch. Sie ist …«
    Marion unterbricht sich und sucht nach Worten, dann sagt sie: »Ich hoffe für sie, dass es mit Euch beiden klappt. Wäre schön.«
    »Ja«, erwidert er, »aber ich kann es nicht erzwingen.«
    Resigniert hebt er beide Arme hoch.
    »Und sonst?«, fragt sie. »Mit Klemens, ich meine, mit dem Finanzamt geht alles in Ordnung?«
    »Alles ist bestens«, sagt er, »ich folge deinem Rat, ichkümmere mich einfach nicht mehr darum. Ist doch nur Geld, nicht wahr. Wird schon werden, irgendwie.«
    »Irgendwie? Das passt nicht zu dir, Rüdiger. Irgendwie gefällst du mir nicht.«
    »Rede mit Henriette, bitte. Alles andere bekomme ich auf die Reihe.«
    In seiner Sprechstunde erscheint Lilly eine halbe Stunde zu spät. Er schaut zur Begrüßung auf seine Armbanduhr, doch sie sagt nur: »Ich hoffe, Sie haben nicht auf mich gewartet. Die Sprechstunde dauert doch eine ganze Stunde, oder?«
    »Ja, aber Sie hatten sich für fünfzehn Uhr eingetragen. Und Unpünktlichkeit mag ich überhaupt nicht. Wenn ich Ihre Arbeit betreuen soll, Frau Riesebach, sollten Sie das berücksichtigen.«
    »Tut mir leid. Tut mir leid, wahnsinnig leid, aber das war auch heute ein Wahnsinnstag für mich, von frühmorgens an. Wenn ich Ihnen erzählen würde …«
    »Kommen wir zum Thema, zu Ihrem Thema. Setzen Sie sich und erzählen Sie mir von der Arbeit. Was haben Sie vor, was haben Sie bereits schriftlich fixiert? Haben Sie etwas mitgebracht, was Sie mir zeigen können?«
    Sie hat nichts mitgebracht außer einem kleinen grünen Handtäschchen, in dem nicht einmal ein Schreibheft Platz gefunden hätte, doch sie beginnt sofort von ihrer beabsichtigten Diplomarbeit zu erzählen. Stolzenburg unterbricht sie nicht, hört ihr scheinbar neugierig zu und lässt immer wieder seinen Blick über sie gleiten. Ein schönes Mädchen, denkt er, schön und selbstbewusst, und sorgfältig hergerichtet, wahrscheinlich ist sie deswegen zu spät gekommen, das Make-uphat Zeit gekostet, sie will mich beeindrucken, ich sollte mich geschmeichelt fühlen. Für einen Moment achtet er darauf, was sie sagt, dann schaut er sie wieder an. Ihren Redeschwall lässt er regungslos über sich ergehen. Vom Hölzchen aufs Stöckchen, kommt ihm dabei in den Sinn, offenbar weiß sie nichts und hat sich nicht vorbereitet. Einen Hollert hätte er schon längst aus der Sprechstunde geworfen, aber die Kleine ist eine Augenweide, ein paar Minuten will er sie noch reden lassen und sie betrachten. Ihm fällt auf, dass sie einen längeren Rock trägt als beim letzten Treffen, und überlegt, was das bedeutet, ob sie ihm damit etwas signalisieren will. Dann denkt er an seinen Auftritt in der Sitzung. Das war eine Dummheit, sagt er sich, Schlösser tut, was er
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