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Weiskerns Nachlass

Weiskerns Nachlass

Titel: Weiskerns Nachlass
Autoren: Christoph Hein
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ausgefallen ist, hat die Maschine einen Notfall, nur dass es außer ihm keinem auffiel. Intensiv, fast gierig starrt er auf das starre Stahlstück vor der Tragfläche, als könne er mit seinem Blick den Propeller anwerfen, zum Rotieren bringen. Sich bekreuzigen, beten, das wäre jetzt angebracht, sagt er sich. Unwillkürlich krampft er die Hände zusammen, faltet sie aufgeregt und schließt die Augenfür den Moment eines Stoßgebetes. Als er sie sofort wieder öffnet und auf den stillstehenden Propeller starrt, stottert der zweite Propeller, zuckt mehrmals, verharrt einen Augenblick bewegungslos, wackelt dann, setzt sich langsam wieder in Bewegung, kommt in Schwung, rotiert gleichmäßig, aber langsamer, wie ihm scheint, und bleibt schließlich endgültig stehen. Beide Propeller an der linken Tragfläche haben ausgesetzt, die Kreuze ihrer metallenen Flügel stehen starr vor der Tragfläche. Das Flugzeug gleitet weiterhin vollkommen ruhig und ohne jede Schräglage, Stolzenburg, den Blick starr auf die unbeweglichen Propeller gerichtet, erwartet jeden Moment, dass das Flugzeug sich zur Seite neigt, dass es kippt, dass es aufheulend wie ein alter Kampfbomber in die Tiefe rauscht. Schreckensbleich betrachtet er die Passagiere, keiner hat etwas bemerkt, man schwatzt noch immer munter, der Mann neben ihm trinkt in kleinen Schlucken seinen Tomatensaft, die Stewards räumen unbesorgt Prospekte in ein Gepäckfach und machen sich übereinander lustig. Stolzenburg will schreien, er öffnet den Mund, er stößt die Luft heraus, aber er ist so schreckensstarr, er bringt keinen Ton heraus. Er ergreift den Arm seines Sitznachbarn, versucht, ihn auf die stillstehenden Propeller aufmerksam zu machen, mit einem Finger deutet er auf sein Kabinenfenster und röchelt. Erschreckt schaut ihn der Nachbar an, stellt das Glas mit dem restlichen Tomatensaft auf dem Klapptisch ab, dann ruft er nach dem Steward. Das abgestellte Glas sichert er mit einer Hand, während er besorgt Stolzenburg anschaut, der sich mehrfach räuspert, er will die Stimme frei bekommen, um wieder sprechen zu können. Das Flugzeug gleitet weiterhin gleichmäßig und völlig waagerecht dahin, kein Vibrieren, keine Unregelmäßigkeit ist spürbar. Die Maschine muss über eine unglaubliche Kompensationsfähigkeit verfügen, die den einseitig vollständigen Ausfall aufzuheben oder auszugleichen vermag. Atemlos und irritiert registriert Stolzenburg den unverändert gleichmäßigen Flug, die weiterhin ruhige Lage seines Flugzeugs. Es gibt kein auffälliges, bemerkbares Manövrieren, kein Auf und Ab, keine unkontrolliert wirkenden Bewegungen des Fliegers. Vielleicht ist es möglich, die Maschine auch mit dem Ausfall zweier Propeller sicher zu landen. Er sieht den Steward auf sich zukommen, die Passagiere in dem Gang rechts und links anlächelnd.
    »Sie wünschen?«, fragt der den Mann neben ihm, der auf Stolzenburg weist.
    Stolzenburg deutet stumm auf das Kabinenfenster.
    »Was wünschen Sie?«, fragt ihn der Steward erneut.
    Stolzenburg hat Mühe, die Frage zu verstehen, ihm zu antworten. Er schaut den jungen Mann verständnislos an, er schüttelt den Kopf, er starrt aus dem kleinen Fenster zur Tragfläche des Flugzeugs.

Zwei
    Ein Geräusch weckt ihn. Das vorsichtige Schließen einer Tür, dann die leisen, lärmvermeidenden Schritte eines Menschen. Noch bevor er die Augen öffnet, bemerkt er einen Lichtschein. Seine Freundin steht neben dem Bett. Sie hält irgendetwas in der Hand, was er nicht erkennen kann, und im Haar trägt sie einen Blätterkranz, auf dem eine brennende Kerze thront. Eine schwedische Festgestalt, erinnert er sich, eine Lichtergöttin oder eine Sommerschönheit, er will nicht darüber nachdenken. Er streckt die Hand aus, streichelt ihren nackten Schenkel, lächelt erschöpft.
    »Patrizia«, flüstert er, »du.«
    »Herzlichen Glückwunsch«, sagt sie. Sie geht vorsichtig in die Hocke, damit die brennende Kerze nicht umfällt, und küsst ihn auf die Wange.
    »Alles Gute«, flüstert sie ihm ins Ohr, »ich freue mich, dass ich heute bei dir bin, Rüdiger. Und ich hoffe, du freust dich auch.«
    »Es ist schön, sehr schön«, erwidert er und schließt die Augen.
    »Unser Frühstück ist fertig. Komm auf den Balkon.«
    »Gleich. Einen Moment noch.«
    »Schau mal. Das ist für dich.«
    Er öffnet ein wenig die Augen, er sieht etwas Dunkles, Schwarzes. Ein Pullover, vermutet er, oder ein Hemd.
    »Schön«, sagt er, schließt die Augen wieder und wendet den Kopf
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