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Weiskerns Nachlass

Weiskerns Nachlass

Titel: Weiskerns Nachlass
Autoren: Christoph Hein
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ab, »nur einen Moment noch, fünf Minuten, bitte.«
    Die junge Frau geht leise aus dem Zimmer.
    Eine Viertelstunde später erscheint Stolzenburg im Bademantel auf dem Balkon. Er gähnt ausführlich, reckt die Arme in den Himmel, streckt sich. Schließlich küsst er die Frau auf die Stirn. Er betrachtet den gedeckten Tisch, den aus Zweigen und Kastanienblättern geflochtenen Kranz. Er nimmt das mit einer roten Schleife verzierte schwarze Leinen hoch und löst die Schleife. Es ist ein japanischer Morgenmantel, ein mit einem einzigen weißen Schriftzeichen bedruckter Kimono.
    »Sehr schön«, sagt er, »danke.«
    Er setzt sich und hält ihr seine Kaffeetasse hin.
    »Neunundfünfzig«, sagt er, »stell dir vor, ich bin neunundfünfzig. Dabei wollte ich nie so alt werden.«
    »Kein Fett, keine Falten, ich weiß gar nicht, worüber du dich beschwerst. Du siehst gut aus. Der bestaussehende Mann, den ich je hatte.«
    »Du bist wirklich ein Schatz«, und nach einer kleinen, einer winzigen Pause fügt er ihren Namen hinzu: »Patrizia«.
    »Entschuldige, dass ich dich geweckt habe, aber ich wollte noch mit dir frühstücken.«
    »Nicht so schlimm«, knurrt er und greift nach einem Brötchen.
    »Du warst schon beim Bäcker? In aller Frühe?«
    »Ja, ich wollte dich überraschen. Zum Geburtstag muss es doch frische Brötchen geben.«
    »Fein.«
    »Aber jetzt muss ich gehen, ich komme sonst zu spät«, sagt sie und steht auf.
    »Du bist ein Engel.«
    Er greift mit beiden Händen nach ihrem Hintern, zieht sie zu sich und presst sein Gesicht gegen ihren Bauch.
    »Schön, dass du da bist.«
    »Sehen wir uns heute Abend?«
    »Heute Abend?«, wiederholt er. Er streichelt ihren Hintern und fasst sie zwischen die Beine.
    »Morgen habe ich eine Veranstaltung in Basel«, sagt er, »da muss ich vor Tau und Tag los.«
    »Ich könnte dich zum Flughafen fahren.«
    »Ich weiß noch nicht. Wir telefonieren, meine Kleine. Wenn ich aus der Uni zurück bin, rufe ich dich an.«
    Als er die Wohnungstür ins Schloss fallen hört, lehnt er sich zurück.
    »Ja, es ist schön«, sagt er laut, »und sie ist ein nettes Mädchen.«
    Er dachte daran, dass er sie, als sie an sein Bett kam und ihn weckte, mit ihrem Namen angesprochen hatte. Noch im Halbschlaf und gleich den richtigen Namen, das ist schon eine gute Leistung. Gewöhnlich flüchtete er sich in eine unverbindlichere, allgemeine Anrede, meine Liebe, zum Beispiel, oder Schatz oder Spätzchen, das erspart Ärger. Ein einziger falscher Name kann leicht den ganzen Vormittag kosten, die Dame würde nicht aufhören, ihm die Verwechslung eines Vornamens unter die Nase zu reiben. Er gießt sich Kaffee nach, greift nach den zwei Zeitungen, die Patrizia für ihn gekauft hat, bleibt eine halbe Stunde auf dem Balkon sitzen, geht dann unter die Dusche.
    Bevor er sich auf das Fahrrad schwingt, um ins Institut zu fahren, setzt er sich an seinen Schreibtisch, sieht dieE-Mails durch, schaut sich sein Konto an in der unsinnigen Hoffnung, eine unerwartete Überweisung vorzufinden, vielleicht einen Bankirrtum zu seinen Gunsten als Geburtstagsgruß, und geht danach die Papiere durch, die er für das Seminar benötigt. Als es Zeit wird, sich auf den Weg zu machen, steckt er die Unterlagen, sein Laptop und das Handy in den Rucksack und kämmt sich ein zweites Mal die Haare. An der Wohnungstür blickt er in den Spiegel, studiert sorgfältig sein Gesicht, tritt einen Schritt zurück und dreht sich ins Profil, um einen prüfenden Blick auf seinen Bauch zu werfen.
    »Neunundfünfzig«, murmelt er und schüttelt den Kopf.
    Er ist nicht unzufrieden mit seinem Aussehen, er hält sich für durchaus attraktiv, gutaussehend, ein junger Mann jedoch ist er nicht mehr. Der bestaussehende Mann, den ich je hatte. Nun ja, nett gesagt, aber ein zweifelhaftes Kompliment. Er weiß nicht, mit wem sie vor ihm zusammen war.
    Noch in der Wohnung setzt er sich den Fahrradhelm auf, ein Monstrum, ein lächerliches Teil. Fritz von der Billardrunde meinte, er sehe damit aus wie ein Sternenkrieger oder die Monster aus einem Fantasyfilm. Mit dem Helm empfindet er sich kostümiert, kommt sich vor wie eine grotesk entstellte Figur, und jedes Mal und noch bevor er vom Rad steigt, nimmt er rasch den Helm ab, doch er ist so vernünftig, ihn trotzdem aufzusetzen, er weiß, er ist in einem Alter, in dem man selbst den kleinsten Sturz nicht folgenlos übersteht. Er fürchtet körperliche Gebrechen und ist daher vorsichtig geworden, viel vorsichtiger als
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