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Weiskerns Nachlass

Weiskerns Nachlass

Titel: Weiskerns Nachlass
Autoren: Christoph Hein
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ist ja unsere pädagogische Pflicht, nicht wahr?«
    Schlösser sieht ihn missbilligend an. »Drücken wir uns die Daumen, Rüdiger. Bist du nicht morgen in Basel? Dann grüß Gotthardt von mir.«

Drei
    Das Seminar verläuft ohne Vorfälle. Es gibt kein Leuchten und kein Licht, keine Offenbarung, keine Idee, keinen Geistesblitz, keine Erkenntnis, weder bei ihm noch bei den Studenten. In den zwei Stunden taucht kein einziger Gedanke auf, der, wie unausgegoren auch immer, es wert wäre, entfaltet oder gar aufgeschrieben zu werden.
    Sebastian Hollert hält ein Referat über Juden im London zur Shakespearezeit. Hollert ist der dümmste und gelangweilteste all seiner Studenten, und Stolzenburg musste ihn mehrfach mahnen, das übernommene Referat endlich auszuarbeiten und vorzutragen. Und nun spricht dieser Junge geschlagene dreißig Minuten, doppelt so lang, als es üblich und erforderlich ist, zumal über ein Thema, das ihn nicht interessiert und zu dem er vermutlich keine zehn Sekunden etwas zu sagen hätte. Er weiß, er ist ihm gegenüber ungerecht. Aber er kann und will es nicht ändern. Er hasst Hollert. Er hasst ihn aus einem, wie er sich eingesteht, dummen und banalen Grund. Hollert bekommt von seinen Eltern ein monatliches Salär, denn ein Stipendium will er eine Summe nicht nennen, die über seinem eigenen Monatsgehalt liegt. Und Hollert weiß das, und er weiß, dass er es weiß. Über die finanzielle Situation des Instituts und der Lehrkräfte sind die Studenten gut unterrichtet, und sie sprechen auch über das ihnen zur Verfügung stehende Geld, jedenfalls Hollert und jene zwei Studenten, dieebenfalls größere Einnahmen haben, wenn auch wesentlich weniger als dieser junge Krösus. Sie sprechen gern darüber, um die anderen zu demütigen, die anderen Studenten und auch die schlecht bezahlten Dozenten, wie er selbst einer ist. Hollert hat als Student mehr Geld zur Verfügung als er, und er wird nach seinem sinnlosen Studium in den väterlichen Betrieb einsteigen oder als Rentier dem Nichtstun huldigen und dabei durch sein Erbe noch weit mehr Geld erhalten. Und Stolzenburg weiß auch, dass Hollert ihn und seine Arbeit verachtet. Verachten muss. Studenten mit solch hohen monatlichen Schecks kann man nicht unterrichten, davon ist Stolzenburg überzeugt. Man kann einem Menschen, dem mehr, viel mehr, möglicherweise ein Mehrfaches an Geld zur Verfügung steht als einem selbst, nichts von der Welt erzählen. Es wäre vernünftiger, das Verhältnis umzudrehen, sein Schüler zu werden statt seinen Lehrer zu spielen, und sich von ihm die Welt und die Gesellschaft erklären zu lassen, und sei es nur, damit er zeigt, wo Barthel den Most holt.
    Hollert hat erkennbar Mühe, sein Referat vorzutragen. Er versteht nicht, was er vorliest, die Sätze sind ihm fremd, deren Sinn ist ihm verschlossen, er liest einen Vortrag ab, der ihm offenbar nichts sagt, der für ihn ein Buch mit sieben Siegeln ist. Er hat ihn zusammengeschrieben, abgeschrieben, kopiert, ohne etwas zu begreifen. Vielleicht hat er ihn zuvor nicht einmal durchgelesen, sondern nur halbwegs passende Bausteine zu einem Thema zusammengestellt, und nun trägt er stotternd ein Referat vor, verkündet Thesen, die er nicht versteht. Mit einer einzigen Frage könnte Stolzenburg diesen aufgeblasenen Ballon zum Platzen bringen.
    Hollert hat sich vermutlich sein Referat aus dem Internet zusammengestellt, aber er ist es leid geworden, seinen Studenten einen Betrug nachzuweisen. Er hatte von Kollegen erfahren, dass mittlerweile im Internet ein Programm angeboten wird, das die zusammengeklaubten Textstellen automatisch so weit verändert, dass jede oberflächliche Überprüfung folgenlos bleibt und bei einer intensiveren Untersuchung sich bestenfalls deutliche Verdachtsmomente herausstellen. Und er hat es satt, mit arbeitsunwilligen, verlogenen Studenten über einen Verdacht zu diskutieren. Er scheut den Ärger mit den Studenten. Vor vier Jahren hatte er einem Absolventen einen Betrug bei der Diplomarbeit eindeutig nachweisen können. Dem Studenten drohte die Aberkennung seines Abschlusses und die Aufkündigung eines gerade abgeschlossenen Arbeitsvertrags, und er nahm sich daher einen Anwalt, der ihn mit unverschämten Briefen und Anrufen traktierte. Stolzenburg wurde verklagt, und nur weil er sich schließlich zu einem Vergleich bereit erklärte, verlor er den Prozess nicht. Das Institut musste die Diplomarbeit anerkennen, und er selbst hatte auf Druck von Schlösser dem
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