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Insel meiner Sehnsucht Roman

Insel meiner Sehnsucht Roman

Titel: Insel meiner Sehnsucht Roman
Autoren: Josie Litton
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    oyce wanderte allein durch die Gärten seines alten Familiensitzes. Die Sonne ging unter und vergoldete jedes Blatt, jeden Grashalm mit dem letzten Licht des Tages. Während er beobachtete, wie die Nacht hereinbrach, wand te er sich zum Meer, und sein Blick folgte der Silberspur des aufsteigenden Mondes. In der Stille dieses Moments gewann er den Eindruck, er würde vor einer schattenhaften, unde finierbaren und zugleich bezwingenden Macht stehen. So stark war das Gefühl, dass er unwillkürlich eine Hand ausstreckte, um nach dem seltsamen Etwas zu greifen. Der lange Tag hatte ihn ermüdet. Und vielleicht glaubte er nur deshalb, über dem Salzgeruch des Meeres den Duft von Zi tronen wahrzunehmen…
    In der Nachtluft vermischten sich die Aromen von Jas min, Thymian, Oleander und Zitronen. Diesen Duft hatte Kassandra ihr Leben lang gekannt - hier auf Akora, in ihrer Heimat, ihrem Gefängnis. Wie inbrünstig sie sich danach sehnte, das Inselreich zu verlassen, wie schmerzlich sie es vermissen würde … Sie seufzte, stützte ihr Kinn auf die ver schränkten Arme und betrachtete durch ein hohes Fenster des Palastes das Meer, das der aufsteigende Mond versilberte. Schimmernd zeichnete er eine Straße auf das dunkle Wasser. Wohin führte sie? In welche der möglichen künftigen Zeiten, die hinter jedem Atemzug warteten, hinter jedem Augenblick? Ausnahmsweise sah sie nicht und spürte nur, was ihr bestimmt war. Von diesem Gefühl getrieben, streckte sie eine Hand aus.
    Und da berührte sie für einen Sekundenbruchteil eine andere.
London, April 1812
    Durch die dünnen Sohlen ihrer seidenen Schuhe spürte sie abwechselnd dicke Perserteppiche und blank polierten Boden, als sie ihr Schlafzimmer verlassen hatte und dem Korridor zur Treppe folgte. Das Geländer fühlte sich kühl und glatt unter ihrer Hand an. Im Haus roch es nach Zitronenöl, getrockneten Rosen und nach dem Lavendelwasser, das benutzt wurde, um die Bettwäsche zu beträufeln. Ganz schwach stieg auch der Geruch von Essig in ihre Nase, denn am Vortag waren alle Abflussrohre damit gereinigt worden, so wie jede Woche.
    Graues Morgenlicht milderte alle Ecken und Kanten, dämpfte Farben, die im Sonnenschein intensiv leuchteten und im Schatten wieder erloschen, wenn die Dunkelheit hereinbrach und die Lampen angezündet wurden. Erst eine einzige Nacht hatte sie hier verbracht, eine wundervolle Nacht, seit sie in Southwark an Land gegangen war. Der erste Anblick Londons, vom breiten Fluss aus betrachtet, hatte sie an die Grenzen ihrer Fantasie geführt, die vor der Wirklichkeit verblasste. Auch die Fahrt durch belebte Straßen hatte sie tief beeindruckt, ebenso wie die verschiedenen Gerüche, obwohl nicht alle angenehm wirkten. Und der Lärm toste so gewaltig, dass erprobte Klageweiber vor lauter Neid verstummen würden. Nie hatte sie sich eine Stadt von diesen überwältigenden Dimensionen vorgestellt, trotz der Traumbilder von der heiß ersehnten Reise, die sie in Ilius jahrelang vor ihrem geistigen Auge gesehen hatte.
    Jetzt hatte sich ihr Wunsch endlich erfüllt. In ihrer maßlosen Freude war sie die ganze Nacht wach geblieben, während die anderen Hausbewohner geschlafen hatten. Schließlich ertrug sie es nicht länger und kleidete sich an – eine mühsame Prozedur, wenn sie es vor ihrer Ankunft auch oft genug geübt hatte. Auf Zehenspitzen war sie die Treppe hinabgeschlichen, und nun stand sie in der stillen Halle und lauschte.
    Sie hörte die Geräusche der Stadt, allerdings nur ganz schwach, denn das Haus wurde von großen Rasenflächen, ausgedehnten Gärten und einer hohen Steinmauer umgeben. Aber über dem Zwitschern der Vögel, die bereits eifrig nach Würmern suchten, dem Flüstern einer Brise in den zarten Frühlingsblättern und dem Stimmengemurmel in der fernen Küche vernahm sie das Knarren von Wagenrädern und Hufschläge auf dem Kopfsteinpflaster. Hingerissen seufzte sie. All diese Laute bewiesen ihr, dass die Stadt tatsächlich existierte, dass sie sich hier befand. Jetzt musste sie nicht mehr träumen, sie würde der silbernen Straße folgen, die der Mond auf das Meer zeichnete – wie in so vielen Nächten an den Fenstern des heimischen Palastes, wenn sie eigentlich hätte schlafen sollen. Auch an diesem frühen Morgen müsste sie noch im Bett liegen. Doch das ließ ihre freudige Erregung nicht zu.
    Lachend drehte sie sich im Kreis, und der rötlich gelbe Rock wehte um ihre Beine. Die Arme ausgebreitet, begrüßte sie den neuen Tag.
    So sah
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