Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Weiskerns Nachlass

Weiskerns Nachlass

Titel: Weiskerns Nachlass
Autoren: Christoph Hein
Vom Netzwerk:
erwarten. Mich zufriedenstellen, das gelingt selbst mir selten.«
    Einige Mädchen kichern.
    »Niemals kann man vorsichtig genug sein, als wenn man andere zu sprechen lehrt«, fährt Stolzenburg fort, »das jedenfalls meinte Konfuzius, und ich denke, er hat damit nicht unrecht.«
    Er nimmt seine Tasche vom Pult, grüßt nochmals freundlich und verlässt den Seminarraum.
    Er war nicht immer so übersättigt und zynisch gewesen. Auch er war einmal vergnügt und mit Energie in die Seminarräume gestürmt und zu seinen Vorträgen, war bemüht, die jungen Leute aufzuwecken, sie aus ihrer Lethargie zu reißen, ihnen Futter zu geben oder doch anzubieten. Er war ehrgeizig und lustvoll genug, sie zu unterhalten und zu begeistern, und er wollte von den Studenten bewundert und verehrt werden. Das war ihm damals gelungen. Seine Seminare waren überfüllt, als Betreuer für die Jahresarbeiten riss man sich um ihn, die Kollegen beneideten ihn um seine Akzeptanz bei den Studierenden. Zu unterrichten bereitete ihm Spaß, er genoss es, ein Lehrer zu sein. Dabei galt er, wie er wusste, als streng und anspruchsvoll, er sei nie zufriedenzustellen, doch es hieß, er sei gerecht und höre zu, was offenbar seltene Lehrertugenden waren, denn ebendiese in seinen Augen Selbstverständlichkeiten wurden immer wieder gerühmt. Damals, sagt er sich heute, hat er sich seine Studenten noch erzogen.
    Ein kleiner Vorfall in seinem zweiten Jahr an diesem Institut wird ihm unvermittelt erinnerlich. Es war nur eine Winzigkeit, aber sie hatte Aufsehen gemacht und war typisch für den Ruf, den er damals genoss. Er hatte das allererste Seminar für frisch immatrikulierte Studenten zu leiten, die er eine Woche zuvor bei einem informellen Treffen kennengelernt hatte und bei dem er ihnen die künftige Arbeit vorstellte und ihnen eine allererste Aufgabe, ein Lesen und Analysieren von Shakespeares Zwölfte Nacht , für die erste Seminarstunde nannte. Selbstverständlich, sagte er, werde man über das englische Original sprechen, man möge sich also keine der Übersetzungen nehmen, sonst würden sie aneinander vorbeireden. Die Studenten hatten laut gestöhnt, was er belustigt zur Kenntnis genommen hatte. Der erste Student, den er im Seminar aufrief, ein rothaariger, verpickelter Hesse, entschuldigte sich wortreich, er habe sein Quartier nicht beziehen können und sei noch immer auf Zimmersuche, weshalb er nicht dazu gekommen sei, das Stück genau zu lesen. Ohne darauf einzugehen, rief er dessen Nachbarin auf, eine kleine Schönheit aus Leipzig, die umgehend zu einer Suada ansetzte, um überaus wortreich gleichfalls mitzuteilen, auch sie habe das Stück nicht gelesen oder nur in einer Übersetzung. Wir haben so viel zu tun, Herr Professor, das können Sie sich gar nicht vorstellen, sagte sie zu seinem unaussprechlichen Vergnügen. Belustigt und fast heiter erkundigte er sich, wer von den anwesenden Herrschaften gleichfalls zu überlastet gewesen sei, um innerhalb einer Woche ein paar Seiten englischer Literatur zu lesen. Zögernd gingen zwei Arme hoch, und bald danach, da er sehr gelassen vor ihnen stand und auf ihre Reaktion wartete und wohl ermutigt durch das Beispiel der ersten vier Geständigen, meldeten sich weitere Studenten. Von den achtzehn Anwesenden hatten lediglich sechs die gestellte Aufgabe erfüllt. Stolzenburg blieb freundlich, er schien nicht verärgert zu sein, stattdessen sagte er ruhig und fast liebevoll zwei, drei Sätze über die Notwendigkeit, das Alltagsleben, die Schwierigkeiten eines neuen Lebensabschnitts und die Studienverpflichtungen unter einen Hut zu bekommen. Es war kühl im Seminarraum, alle Studenten glaubten, dem Herrn Professor sei es zu kalt, als er sich während seiner Ausführungen den Mantel vom Haken nahm und überstreifte. Dann griff er nach dem kleinen Zettel, der auf seinem Pult lag, steckte ihn in eine Manteltasche, ging zur Tür, öffnete sie und wandte sich um. Der Studentenvertreter, sagte er, möge ihm bitte mitteilen, wann alle Seminaristen, aber auch wirklich alle, das Stück gelesen oder vielmehr studiert hätten, damit er endlich das erste Seminar mit ihnen durchführen könne. Danach verschwand er, und die Studenten saßen einige Minuten schweigend auf den Plätzen, unsicher und ungewiss, was sie nun zu tun hätten, bevor es laut wurde und man sich gegenseitig beschuldigte. Stolzenburg hatte niemanden über diesen Vorfall informiert, doch er sprach sich am Institut herum, und selbst Schlösser kam nicht umhin,
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher