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Weiskerns Nachlass

Weiskerns Nachlass

Titel: Weiskerns Nachlass
Autoren: Christoph Hein
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Fleischbeschau begonnen, mit dem Tag, an dem auch er die neuen Studentinnen lange ansah und über sie sprach wie die verachteten Kollegen. Vielleicht war es der Vormittag in jenem Jahr, als er die Studenten eines ersten Studienjahres begrüßte, wie stets eine Namensliste anfertigen ließ und mit besonderer Aufmerksamkeit die Mädchen in Augenschein nahm, sie taxierte, sich für sie interessierte. Als auch er in dieser allerersten Stunde, an dem Tag, an dem er ihnen zum ersten Mal begegnete, eins der jungen Gesichter nach dem anderen eingehend prüfte, nicht, um nach einer möglichen Intelligenz oder Witz zu forschen, vielmehr um ihre Attraktivität zu begutachten. Er sprach mit allen ein paar Worte und brachte unter einem unverdächtigen Vorwand die Mädchen, die ihm gefielen, dazu, aufzustehen und zu ihm zu kommen oder den Raum zu durchqueren. Welches könnte ihm gefallen, mit welcher der entzückenden jungen Damen würde er mehr zu tun haben, als von der Institutsleitung vorgesehen war? Welche von ihnen würde er irgendwann – nach einem Referat, das sie gehalten und er als ungewöhnlich und herausragend gelobt hatte, oder nach einer misslungenen Prüfung oder auch ohne jeden Anlass – einladen, mit ihm essen zu gehen, um sie anschließend in seine Wohnung zu bitten, weil er ihr etwas zeigen oder geben wollte.
    Von einem Missbrauch, von einer Verführung zu reden, wäre unsinnig. Die jungen Frauen waren volljährig,sie waren nicht naiv und unschuldig, sie wussten Bescheid, waren aufgeklärt, aufgeklärter, als es seine Generation seinerzeit war. Sie alle, da durfte er sicher sein, wüssten beim ersten Satz, bei seinem allerersten und möglicherweise unbeholfenen und verlegenen Versuch, sie einzuladen, um was es ging, was er ihnen nach dem Essen in seiner Wohnung zeigen und geben wollte. Sie wussten seit der allerersten Stunde, seit er sie genötigt hatte, aufzustehen, um sich ihm zu präsentieren, dass er mit ihnen schlafen wollte. Das waren keine unerfahrenen Jungfrauen, die mit Mädchenschwärmereien und Illusionen an die Universität kamen. Das waren, trotz ihrer Jugend, erfahrene Frauen, erfahren jedenfalls im Sex. Sie konnten, und er hatte es erlebt, mit ihrer unverblümten Direktheit einen älteren Mann wie ihn verblüffen und in die Enge treiben, und sie beurteilten ihrerseits die männlichen Dozenten auf genau die gleiche Art, wie er und seine Kollegen es mit den Mädchen taten. Du willst doch nur mit mir ficken, hatte ihm eine dieser jungen Schönheiten erwidert, als er sie zu einem Essen einlud. Sie hatte ihn geduzt und ihn, noch bevor er die ihm unterstellte Absicht energisch zurückweisen konnte, angestrahlt und die Einladung angenommen. Zum Essen und zum Ficken. Unterrichten war ein Geben und Nehmen, so hatte er es einst bei seinen Lehrern der Pädagogik gelernt, und nichts anderes praktizierte er, wenn er dieses Geben und Nehmen ein wenig erweiterte.
    Was sich verändert hatte, wo er sich verändert hatte, das war vielleicht lediglich das Alter. Sein Älterwerden. Das nahende, noch nicht fühlbare, aber unabweisbare und nicht mehr zu verdrängende Altern. Eine uneingestandene Angst vor dem Ende, dem Schlusspunkt. Dem Ende des Lebens oder eines gesunden Lebens. Dem Ende seiner kraftvollen, potenten Existenz. Es gab nicht den geringsten Hinweis auf irgendwelche Beschränkungen, weder geistige noch körperliche, er fühlte sich unverändert gut, gefühlte zwanzig Jahre jünger, als er es war. Aber er war nicht mehr Mitte dreißig, sein wirkliches Alter war in seinem Körper vorhanden, es steckte dort im Kopf, in den Därmen, im Herzmuskel, im Geschlechtsteil, und es würde sich melden. Unvermutet vielleicht. Überraschend in einem bestimmten Jahr, in einem gewissen Monat. Oder schlagartig an einem Tag. Dann wäre er auf einmal ein alter Mann. Ein Greis. Und er wusste nicht, wie viel Zeit ihm bis zu diesem Finale blieb. Sicherlich zehn Jahre. Mit etwas Glück zwanzig. Sehr viel mehr gewiss nicht. Und dann würde alles peinlich werden. Peinigend. Die Haut schlaff, die Haare heftig gelichtet, ein paar Fettpolster hier und da, die man weder im Sportstudio noch durch Laufen oder harte Fahrradtouren zum Verschwinden bringen konnte, ein völlig harmloses, aber hässliches Liposom, das ihn entstellt, unattraktiv macht. Wenn er sich dann mit einer Frau verabreden würde, mit einer vermutlich jüngeren Frau, denn er hatte immer jüngere Frauen, sehr viel jüngere Frauen, würde er sich eilig auskleiden und im
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