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Weiskerns Nachlass

Weiskerns Nachlass

Titel: Weiskerns Nachlass
Autoren: Christoph Hein
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sich dazu zu äußern. Er beglückwünschte ihn, als habe er eine Heldentat begangen, was Stolzenburg lächerlich erschien.Man muss ihnen die Leviten lesen, hatte er lediglich erwidert, dann wird schon etwas aus ihnen.
    Und nun, nach all den Jahren müßiger Mühe, will er nichts und keinen mehr zurechtbiegen. Wozu auch? Wenn er die jungen Leute vor sich sah, von denen ein paar lebenslang vom vermögenden Papa ausgehalten werden und die übrigen ihren Lebensunterhalt vermutlich mit dem Steuern eines Taxis verdienen müssten, fragte er sich, weshalb sie von seinem Institut ein Diplom in der Tasche haben und ihm auf die Nerven fallen mussten. Er jedenfalls hatte sich von seinen Illusionen verabschiedet, nun hatte er die Pension fest im Blick. So lächerlich gering sie auch sein würde, er wollte sie keinesfalls aufs Spiel setzen. Ein dienstliches Vergehen mit schwerwiegenden Folgen wollte er in jedem Fall vermeiden, und da eine Auseinandersetzung mit einem Studenten schwerwiegende Folgen haben konnte, ließ er die Fünf eine gerade Zahl sein, jedenfalls soweit dies nicht gleichfalls schwerwiegende Folgen haben könnte.
    In seinem Wortschatz war ein neuer Begriff aufgetaucht, ein Wort, vor dem er sich noch vor wenigen Jahren geekelt hatte, ein Wort, das bisher mit seiner Kultur und seiner Bildung, mit seiner Auffassung von Universität und Lehre, von Humanitas und Leben unvereinbar gewesen war. Ich lerne hinzu, sagte er sich, als er das Wort »abreißen« zum ersten Mal gebrauchte, als er zu einer Kollegin sagte, er habe noch ein Seminar »abzureißen«. Damals war er zusammengezuckt, aber da die Kollegin auf diesen für ihn merkwürdigen Ausdruck überhaupt nicht reagierte und die Wortwahl sie keineswegs verstörte, lächelte er über sich selbst. In Wahrheit war er längst dabei, seine Vorträge und Seminare »abzureißen«,bevor er dieses Wort in den Mund nahm. Er war alt geworden und zynisch, oder, was er als Erklärung vorzog, er war belehrbar. Er riss seine Stunden herunter, er arbeitete mit uralten, vor Jahren erstellten Manuskripten, er lebte von der Wiederholung und scheute sich auch nicht, wie ein Stadttheaterbuffo die erfolgreichsten Stücke seines Repertoires immer wieder anzusetzen und, am Pult stehend, einen unendlich oft durchgekauten Gedanken auf eine Art zu präsentieren, als würde ihm dieser Geistesblitz gerade in jenem Moment einfallen, als könnten die Studenten Augenzeugen sein, wie er, den zerstreuten Blick aufs Fenster oder gegen die Decke gerichtet, ganz in sich ruhend, nachdenkt und elegante, geistvolle und witzige Apercus formuliert, scheinbar völlig in sich versunken, als habe er das Seminar und die Studenten vergessen und lebe und bewege sich in der reinen Welt der Wahrheit und der Künste. Er nahm, ohne zu ihnen zu schauen, wahr, wie sie ihm begeistert folgten, seine Bemerkungen notierten und voll Achtung und Bewunderung zu ihm sahen.
    Es hatte eine Zeit gegeben, in der es ihm unangenehm aufstieß, wenn er einen seiner Gedanken ein weiteres Mal äußerte. Es passierte, es unterlief ihm, und sobald er es bemerkte, war es ihm peinlich, er schämte sich dafür und hatte sogar das Gefühl, rot zu werden, obgleich die Wiederholung keinem aufgefallen war und kein anderer sie bemerken konnte. Damals hasste er nichts so sehr wie diese Wiederholungen, den Abklatsch von geistiger Arbeit, diese Duplikate des Denkens und des Unterrichtens. Er verachtete jene Kollegen, die seit Jahren und Jahrzehnten den immer gleichen Stoff, die gleichen Themen behandelten und hemmungslos vor den neuenSemestern dieselben Vorträge hielten, die schon Studenten gehört hatten, die längst die Universität verlassen hatten. Er verachtete diese Kollegen, aber noch mehr irritierten sie ihn damals. Ihm war es unverständlich, wie ein geistig arbeitender Mensch sich damit abfinden und zufriedengeben konnte, die immer gleichen Thesen und Sätze von sich zu geben, wie ein Tonbandgerät, wie ein Automat. Ihm schien das unendlich langweilig zu sein. Ihn ärgerte die mangelnde geistige Hygiene, die Lethargie der Kollegen, ihre Unbeweglichkeit, aber vollkommen unbegreiflich war ihm, wie ein Hochschullehrer, ein ausgewiesener Pädagoge und Wissenschaftler, sich damit begnügen konnte, unentwegt den gleichen, ihn notwendigerweise langweilenden Stoff durchzukauen. Er war so aufgeschlossen und lebendig, ihnen in diese Faulheit nicht zu folgen und stattdessen in jedem Jahr neue Stoffe für seine Seminare anzukündigen, auch wenn ihn
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