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Weiskerns Nachlass

Weiskerns Nachlass

Titel: Weiskerns Nachlass
Autoren: Christoph Hein
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Eins
    Das kleine Flugzeug nach Basel startet verspätet, er wird fast zwei Stunden nach dem angekündigten Zeitpunkt bei Gotthardt ankommen. Alle Plätze in der Maschine sind besetzt, es ist unangenehm eng. Stolzenburg lässt seine Papiere in der Tasche, er will, bedrängt vom Ellbogen des Nachbarn, auf dem winzigen Klapptablett kein Manuskript aufschlagen. In dem Billigflieger werden keine Zeitungen angeboten, und er bedauert, sich nicht ein Blatt im Flughafen gekauft zu haben. Wenige Minuten nach dem Start schieben zwei locker gekleidete Stewards einen Wagen durch den schmalen Gang und verkaufen Getränke, Snacks und Uhren, doch lediglich der Mann neben ihm lässt sich einen Tomatensaft geben und bezahlt mit einer Kreditkarte, was ihn nötigt, aufzustehen und im oberen Gepäckfach nach seiner Brieftasche zu suchen.
    Stolzenburg schaut aus dem Fenster, die Stirn an die Scheibe gelehnt, betrachtet er die sich unter ihm auftürmenden Wolken. Er denkt an Henriette und an Lilly, dann an seine Tochter. In der nächsten Woche will er sich in seiner Bank einen Termin geben lassen, er ist schon Jahrzehnte bei demselben Geldinstitut, und auch wenn man mit ihm wenig verdient hat, hofft er, dass man seine Treue zu schätzen weiß und ihm irgendeinen günstigen und bezahlbaren Überbrückungskredit gewährt. Die Chancen stehen schlecht, er macht sichkeine Illusionen, aber den Versuch lohnt es. Ihm fällt Weiskern ein, Aberte. Ein weiterer Brief an Jürgen Richter ist fällig, den Verleger. Irgendwoher muss auch für mich mal Geld kommen, sagt er sich. Er schrickt zusammen und schaut zu dem Nachbarn, für einen Moment fürchtet er, laut gesprochen zu haben, doch der Mann beachtet ihn nicht, liest nur aufmerksam die Beschriftung auf der Saftbüchse. Stolzenburg lehnt den Kopf wieder ans Fenster und starrt in die Wolken. Er sieht die linke Tragfläche und zwei Propeller oder vielmehr die beiden schwirrenden Kreise, die die rotierenden Flügel vor der breiten Blechfläche bilden. Plötzlich zuckt einer der Propeller, für einen Moment sieht er einen der Flügel der Luftschraube, dann beginnt sie erneut zu rotieren, der gebogene Stahl wird durch die Geschwindigkeit unsichtbar. Für einen Augenblick setzte die Rotation aus, blieb die Schraube stehen, bewegten sich die Flügel nicht mehr um ihre Welle. War das ein einmaliger Vorgang, oder ist das normal, fragt sich Stolzenburg erstaunt und starrt auf den kreisenden Propeller. Sekunden später zittert die Schraube wiederum kurz und bleibt dann stehen, die Flügel bewegungslos. Atemlos wartet Stolzenburg darauf, dass der Propeller wieder anspringt, dass der Luftdruck die Schraube wie bei einem Windrad anwerfen wird, doch der Stahl steht aufrecht und still, nur der Propeller neben ihm zeichnet noch das rotierende Flirren in die Luft. Stolzenburg muss schlucken, sein Mund ist plötzlich wie ausgetrocknet. Er schaut zu den anderen Passagieren, aber keinem fällt etwas auf, das Flugzeug fliegt gerade und unbeirrt, die beiden Stewards stehen in der Nähe der Pilotentür und unterhalten sich, auch sie haben nichts bemerkt. Stolzenburg atmet heftig, er fühlt eine aufsteigende Panik und zwingt sich, ruhig zu bleiben, nicht zu schreien, nichts zu sagen. Da keiner unruhig wird, scheint alles normal zu sein. Er starrt weiter auf den stillstehenden Propeller und atmet noch heftiger, stoßartig, seine Hände umkrallen die Armlehnen, er schwitzt. Das ist das Ende, sagt er sich, auf einem banalen Flug zu einem banalen, schlecht honorierten Vortrag an der Baseler Kunsthochschule, aber er bezahlt es möglicherweise mit dem Leben. Vorsichtig schaut er zu den Passagieren, sie schwatzen miteinander, der Mann neben ihm würzt ausgiebig seinen noch immer nicht angerührten Tomatensaft, offenbar ist er, Stolzenburg, der Einzige, der die Anzeichen der drohenden, unmittelbar bevorstehenden Katastrophe bemerkt hat. Vielleicht haben die Piloten sie auch nicht registriert, obwohl im Cockpit die roten Lämpchen flackern, die Notaggregate aufheulen müssen, vorne tut sich jedoch nichts, wird nicht hektisch die Tür aufgerissen, gibt es keine Anweisungen, Befehle, Rufe. Er zwingt sich, ruhig zu bleiben, er räuspert sich mehrfach, auch sein Hals ist ausgetrocknet. Er starrt aus dem Fenster, der Propeller rührt sich nicht, diese Maschinen können offenbar auch mit drei Propellern fliegen. Möglicherweise ist der zweite ein nicht unbedingt notwendiger Ersatzpropeller, ein Propeller für den Notfall. Aber da er jetzt
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