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Weiskerns Nachlass

Weiskerns Nachlass

Titel: Weiskerns Nachlass
Autoren: Christoph Hein
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noch vor wenigen Jahren.
    Zwanzig vor zehn ist er am Institut und schließt seinRad sorgsam an ein Verkehrsschild. Im Gang des ersten Stocks stehen Studenten, die ihm zunicken. Er geht ins Sekretariat, um die Briefe und Nachrichten aus seinem Postfach zu holen, doch als er das Zimmer betritt und Sylvia grüßt, steht sie auf, kommt um den Tisch herum, reicht ihm fast förmlich die Hand und gratuliert ihm.
    »Ja, schon wieder einmal«, sagt er verlegen, »schon wieder ein Jahr herum. Dank für deine Wünsche, ich kann sie gebrauchen.«
    Er blättert mit dem Daumen das kleine Bündel von Papieren durch, zieht den einzigen Brief, der handschriftlich adressiert ist, heraus und öffnet ihn.
    »Dann wird es heute Abend eine kleine Feier geben?«, fragt Sylvia.
    Er sieht sie überrascht an. In ihrer Stimme klingt etwas mit, das er nicht entschlüsseln kann. Vielleicht weiß sie etwas, eine unangenehme Nachricht, schließlich sitzt sie im Vorzimmer des Institutsleiters und bekommt dadurch auch jene Sachen mit, die nicht für ihre Ohren bestimmt sind. Oder sie erwartet eine Einladung, zu einem Glas Sekt oder gar zu einer Geburtstagsfeier, er weiß es nicht. Er hat sich nie mit den Kollegen des Instituts privat getroffen, er lehnt es grundsätzlich ab, das Berufliche mit dem Privaten zu mischen. Schließlich sagt er beiläufig: »Nein, ich glaube nicht. Was gibt es da zu feiern? Ich bin ein Jahr älter geworden, das ist kein Verdienst, keine Leistung. Ein Jahr älter, da solltest du mir kondolieren, Sylvia.«
    »Kokettiere nicht, Rüdiger. Männer in deinem Alter sind in den besten Jahren. Da geht es euch besser als uns Frauen. Wir werden alt, ihr dagegen werdet reif.«
    Schlösser, der Chef, tritt aus seinem Zimmer und enthebt ihn der misslichen Verpflichtung, der Sekretärin mit einer charmanten Floskel zu antworten.
    Schlösser sieht ihn kurz an und nickt, dann legt er einen Brief vor Sylvia auf den Tisch und bittet sie, ihn zu beantworten.
    »Ich möchte eine ebenso freundliche wie klare Ablehnung«, sagt er, »Das kriegst du schon hin.«
    Die Sekretärin flüstert ihm etwas zu, Schlösser versteht nicht und fragt nach, sie flüstert wiederum etwas und lenkt den Blick Richtung Rüdiger.
    »Danke, ach ja«, sagt Schlösser. Er kommt mit ausgestreckter Hand auf ihn zu, um ihm zum Geburtstag zu gratulieren.
    Rüdiger Stolzenburg bedankt sich nicht, er schweigt und sieht ihn erwartungsvoll an. Schließlich fragt er: »Und? Nichts weiter?«
    »Was meinst du? Ich weiß nicht, wovon du jetzt sprichst.«
    »Oh, früher hast du immer noch etwas angefügt, einen winzigen Satz, eine nette, völlig folgenlose Bemerkung. Schon vergessen? Noch vor einem Jahr konnte ich diesen hübschen Satz hören.«
    Schlösser schaut ihn verstört an.
    »Nun, dass ich nicht ewig auf dieser halben Stelle sitzen werde. Dass du dich zumindest darum bemühen willst. Das war bislang dein Geburtstagsgeschenk, Jahr für Jahr. Fünfzehn Jahre lang, zu jedem Geburtstag. Und heute? Da fehlt mir etwas, Frieder. Oder ist der Akademische Rat für mich endgültig gestrichen? Hat sich eine Verbeamtung für mich erledigt?«
    Schlösser lächelt gequält. »Komm bitte für einen Moment in mein Zimmer, Rüdiger«, sagt er, legt einen Arm um dessen Schulter und führt ihn in sein Büro.
    »Setz dich. Möchtest du etwas trinken?«
    »Danke, nein. Ich muss ins Seminar.«
    »Dann wollen wir uns kurz fassen. Ich habe keine volle Stelle für dich, und das ist dir bekannt. Ich habe mich immer darum bemüht. Du weißt selbst, was ich alles unternommen habe. Und heute, und das ist leider die Wahrheit, heute kämpfe ich darum, dass mir die Mitarbeiterstellen nicht gestrichen werden. Heute muss ich froh sein, dass für dich und Veronika wenigstens die festen halben Stellen bleiben. Ich brauche dich. Ich bräuchte eigentlich eine ganze Kraft, zwei ganze Kräfte, ich bekomme sie nicht. Das ist die Wahrheit, und das wird allem Anschein nach so bleiben.«
    »Ich bin neunundfünfzig, Frieder.«
    »Im Rektorat kennt man dein Alter. Über fünfzig, über fünfundfünfzig, da verbietet es das Beamtenrecht, da wird es zu einer Belastung der Pensionskasse.«
    »Neunundfünfzig! Hier eine halbe Stelle, und da und dort ein paar Vorträge, Aufsätze und Rezensionen, um sich über Wasser zu halten, das hatte ich mir so nicht vorgestellt. Ich bin seit fünfzehn Jahren hier, und seit fünfzehn Jahren höre ich, dass du diese halbe Stelle zumindest in einen Akademischen Rat überführen willst.
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