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Endstadium

Endstadium

Titel: Endstadium
Autoren: Gmeiner-Verlag
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    Hubert Löffke trat lächelnd an das Fenster des kleinen Büros im zweiten Obergeschoss des alten Kanzleigebäudes. Er strich behutsam mit den Fingerkuppen über den alten Holzfensterrahmen. Der weiße Lack hatte scharfkantige Risse und platzte an einigen Stellen ab.
    »Wir schaffen es mit den Renovierungen immer nur bis in den ersten Stock«, sagte er mit gespieltem Bedauern. Dann wandte er sich zu Stephan Knobel um.
    »Hier im Zimmer 307 haben Sie vor wenigen Jahren Ihre Karriere begonnen, wenn ich nicht irre.« Er hielt inne, doch Knobel erwiderte nichts.
    »Natürlich haben Sie hier Ihre ersten Schritte gemacht, Knobel, ich erinnere mich genau. Nur stand der Schreibtisch vor dem Fenster. Aber sonst …« Er blickte versonnen an die Decke und beobachtete das leichte Flackern der Leuchtstoffröhre. »Sonst ist alles beim Alten. Ihr Karrierekreis schließt sich, Knobel! In 307 begonnen, zur bel étage vorgearbeitet, Partner geworden, dann der Kanzlei den Laufpass gegeben, der Sie alles verdanken. Und jetzt sitzen Sie wieder in 307. Wie fühlen Sie sich, Kollege Knobel?«
    »Es ist nur vorübergehend, bis ich eigene Räume gefunden habe, das wissen Sie doch«, erwiderte Stephan gelassen.
    Löffke nickte und sah wieder bemüht teilnahmslos aus dem Fenster.
    »Weiß ich alles, Knobel. Jeder hier weiß von Ihrer ritterlichen Gesinnung, die es Ihnen verbietet, sich weiter mit den Idealen unserer Sozietät zu identifizieren. Jeder kennt Ihren Rundbrief an alle Anwältinnen und Anwälte unseres Hauses, Ihre sorgsam differenzierten Ausführungen zum beruflichen Ethos eines Juristen, Ihren fast pastoralen Appell, dem Gebot des feinen Umgangs miteinander endlich Geltung zu verschaffen. Wir alle haben Ihren Gesinnungsaufsatz zur Kenntnis genommen, und ja, wir haben das erbetene Verständnis aufgebracht und uns dem künstlich verzweifelten Schlusssatz unterworfen: ›Ich bitte um Verständnis, wenn ich meinen eigenen Prinzipien folgen muss und deshalb meine berufliche Zukunft nicht mehr in der Kanzlei sehe, der ich mich trotz aller Differenzen auf Dauer verbunden fühlen werde und der ich aus vollem Herzen für das in mich gebrachte Vertrauen danken möchte.‹«
    Löffke hatte sich umgewandt.
    »Die Differenzen, von denen Sie schreiben, haben einen Namen, habe ich recht?« Er blinzelte Knobel an und erwartete keine Antwort. »Die Differenzen, mit denen Sie nicht klarkommen, das bin doch ich, Herr Knobel! Ich als Ihr vermeintlicher ständiger Widersacher und dennoch aufrichtiger Kollege. Ich sage Ihnen das ganz ehrlich, Knobel: Ich wollte Sie nicht verdrängen. Wenn Sie mich als jemanden empfunden haben, der Ihnen fast aus sportlichem Ergeiz feindlich gesinnt ist, dann wissen Sie, dass Sie mir mit Ihrer Flucht keine Freude machen können. Wer sportlich Feindschaften pflegt, der vermisst den abhanden gekommenen Feind. – Und Sie, Knobel? Jetzt fangen Sie wieder von vorn an, beginnen praktisch bei Null, sitzen jetzt in dieser Abstellkammer, bis Sie neue Räume beziehen können. Jetzt gehts zur Bank, Konzepte vorlegen für ein Kanzleimodell, dann zu den Büroausstattern, damit Sie gediegenes Interieur finden. – Oder reichts am Anfang nur für Gebrauchtmöbel? – Nun, Knobel, Sie sagen ja nichts! – Wer wird für Sie schreiben? Ihre rundliche Frau Klabunde hat sich bis jetzt noch nicht entschlossen, mit Ihnen zu gehen. Man kann über die Klabunde sagen, was man will, aber sie hat den richtigen Riecher. Sie wird natürlich hier bleiben, Knobel, was denken Sie denn? Eine alleinstehende Frau mit fast 50 begibt sich doch nicht mehr auf brüchiges Eis. Bei ihrem Gewicht würde sie ja auch einbrechen!« Er lachte meckernd, wie er es immer tat, wenn er sich an seinen eigenen Witzen ergötzte.
    »Also schreibt Ihr Mariechen für Sie, nicht wahr? Die examinierte Germanistin findet keinen Job. Folgerichtig wird sie die Tippse ihres Geliebten. Heiraten Sie doch bald, Knobel, damit sich Ihr Leben endlich fügt. Ich habe immer gewusst, dass Sie ein Mensch der Brüche sind. Glauben Sie mir eines: Ich bin sicherlich kein juristischer Schlaumeier. Mich brauchen Sie wirklich nicht nach den letzten Winkelzügen der Rechtsprechung der Obergerichte zu fragen. Ich sage Ihnen frei weg: Ich kenne sie nicht. Aber ich habe immer den richtigen Riecher! Ich kenne meine Akten. Und ich täusche mich auch nicht in Ihnen, Knobel! Ich weiß doch, dass Sie es jetzt schon bereuen, vorschnell Ihren Abgang erklärt zu haben. Tun Sie doch nicht so, als
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