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Weiskerns Nachlass

Weiskerns Nachlass

Titel: Weiskerns Nachlass
Autoren: Christoph Hein
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Betrüger das Diplom auszuhändigen. Das Institut, die Universität hatten ihn in diesem Rechtsstreit alleingelassen, obwohl er, allein um die Standards und das Ansehen ebendieses Instituts und dieser Universität zu verteidigen, den unverschämten Angeboten des Studenten und dessen Anwalt nicht nachgegeben und den Prozess riskiert hatte. Sogar die Prozesskosten hatte er zu tragen und daher entschieden, sich nie wieder für seinen Arbeitgeber über ein unumgängliches Maß hinaus einzusetzen. Warum auch? Er hatte nicht für die Uni zu sorgen, sie sorgte sich auch nicht um ihn. Und die Studenten waren ihm letztlich egal. Wenn sie nichts lernen wollten, so war das ihre Entscheidung, er war nicht ihr Kindergärtner. Und wenn sie, was neuerdings offenbar üblich wurde, eine verpatzte Arbeit nicht wiederholen wollten, sondern stattdessen einen Anwalt bemühten, der ihm Fehler und Unterlassungen nachzuweisen suchte, um ihm die Schuld an der unzureichenden Leistung anzulasten, dann geht er auf eine Verabredung ein, einen Deal, um weiteren Ärger zu vermeiden und keine Zeit zu verschwenden. Falls einem seiner Studenten einfallen sollte, seine Abschlussnote mit der Hilfe eines Anwalts verbessern zu wollen, er würde nicht mehr den Kohlhaas spielen, vielmehr einen weiteren Prozess vermeiden und ihm umgehend eine freundliche Zwei eintragen. Und sollte sich ein ganzes Anwaltsbüro bei ihm melden, ließe sich mit ihm auch über ein cum laude verhandeln. Er hat schließlich nur eine halbe Stelle an diesem Institut.
    Hollert liest gelangweilt Worte und Sätze vor, mit denen er nichts anzufangen weiß. Er benutzt Fremdworte, die er nur selten korrekt ausspricht, bei einer Anfrage nach ihrer Bedeutung geriete er in hilfloses Stottern. Aber Stolzenburg fasst nicht nach. Nicht mehr. Und schon gar nicht bei einem Typen wie Hollert. Er will auch nicht wissen, wieso dieser Kerl studiert, wozu er das nötig hat und warum er sich ausgerechnet in seinem Institut einschreiben musste.
    Hollert ist gelangweilt, Stolzenburg ist gelangweilt und die Seminargruppe ebenfalls. Als Hollert endlich den Schluss findet, dankt er ihm knapp und fordert die Anwesenden auf, sich zum Vortrag zu äußern. Die Diskussion schleppt sich dahin, es sind nur zwei der vierzehn Teilnehmer des Seminars, die sich zu Wort melden,es sind immer dieselben zwei Studenten, die mit ihrem Eifer vermutlich ihren begrenzten Geisteshorizont zu erweitern oder zu verbergen suchen. Stolzenburg arbeitet sein Programm ab, das Programm des Instituts, er liefert das Verlangte. Falls einer der jungen Leute ihm gegenüber etwas mehr vorzuweisen hätte, etwas mehr Geist oder Neugierde oder nur Lebhaftigkeit, würde er darauf eingehen und den Betreffenden zu fördern suchen. Er würde ihm Lektüre empfehlen, zusätzliche Arbeiten abverlangen, ihm in seinen Sprechstunden auch einen zusätzlichen Vortrag halten. Er war bereit, mehr zu geben, aber nur, wenn es verlangt sein sollte, und es wurde höchst selten verlangt. Das Übliche reicht, sagt er sich und lässt seinen Blick durch den Raum gleiten, schaut sich die Gesichter an und stellt sich vor, was diese Jungen und Mädchen in zwei, drei Jahren machen werden, wenn sie die Universität mit einem sinnlosen Diplom verlassen und – ausgenommen jener drei, die lebenslang vom Elternhaus gut versorgt werden – einen Kurzzeitjob nach dem anderen annehmen müssen oder neue Rekruten im riesigen Heer der jahrelangen Praktikanten werden. Neunundfünfzig, sagt er sich, das ist dagegen eine recht angenehme Alternative. Man bekommt in diesem Alter zwar keine volle Stelle, aber er hat immerhin eine halbe, und das ist mehr, als die Mehrheit von diesen jungen Leuten je bekommen wird.
    Am Seminarende, als er sich bereits verabschiedet hat und den Raum verlassen will, erkundigt sich Hollert, ob Stolzenburg mit seinem Referat zufrieden war, wie er es beurteilt.
    »Erstaunlich«, sagt Stolzenburg, »ganz erstaunlich. Sie waren sehr fleißig. Ihr Vortrag war nicht originell, esgab keine Überlegung, die neu und mir unbekannt war, die ich nicht hier und dort bereits gelesen hatte. Aber fleißig, das waren Sie. Eine große Schreibleistung. Sie haben mich verblüfft, Hollert.«
    »Und mehr haben Sie nicht dazu zu sagen?«
    »Es war mehr, als ich erwartet habe. Wie gesagt, erstaunlich. Ich denke, Sie sollten mit sich zufrieden sein.«
    »Ich wollte eigentlich wissen, ob Sie zufrieden sind.«
    »Ich? Was wollen Sie hören? Sie sollten nicht zu viel von sich
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