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Falkengrund, Schule des Okkulten - Episode 12 Schattentänzer

Falkengrund, Schule des Okkulten - Episode 12 Schattentänzer

Titel: Falkengrund, Schule des Okkulten - Episode 12 Schattentänzer
Autoren: Martin Clauß
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1. Frederik
    Er hatte vorgehabt, einfach an der Theke stehen zu bleiben. Das schien ihm bequemer als auf einen der Stühle zu klettern und sich zu der viel zu niedrigen Theke hinab zu beugen. Doch dann stand der einzige Gast auf – ein dicker, kleiner Mann mit einer Goldkette um den Hals –, schnappte einen der fünf Barhocker und schob ihn so energisch auf ihn zu, dass er beinahe davon umgeworfen wurde. Artur hob die Schultern und bestieg das Gebilde aus Metall und Leder.
    „Der Preis ist derselbe“, meinte der Dicke, „ob du sitzt oder stehst.“ Anschließend lachte er laut und selbstzufrieden, als habe er einen geistreichen Witz zum Besten gegeben.
    Wenn Artur nicht schon bestellt hätte, hätte er das Bistro sofort verlassen. Er war von Haus aus nicht der Geselligste und im Augenblick so reizbar, dass die kleinsten Vertraulichkeiten von fremden Menschen seinen Blutdruck in schwindelnde Höhen trieben. Doch sein Weizenbier stand schon kühl und perlend auf dem Tresen, als er oben auf dem Stuhl ankam. Schneeweißer Schaum lief an dem schlanken, beschlagenen Glas herunter, und der junge Bursche, der ihn bediente, schenkte ihm ein schüchternes Lächeln. Hab ich doch hübsch hinbekommen, oder? , schien dieses Lächeln sagen zu wollen. Nicht zu viel und nicht zu wenig.
    Das war Frederik, wie Artur wenig später erfuhr.
    Frederik hatte lockiges, fast schwarzes Haar und war blass. Besonders um die Lippen war seine Haut unrein und gerötet, und er hatte die Angewohnheit, seinen Mund mit der Hand zu bedecken, wenn er sprach. Diese Geste verlieh ihm etwas Mädchenhaftes. Während die Pickel die untere Hälfte seines Gesichtes fast ordinär wirken ließen und sein Kinn zu einem ausgebeulten, asymmetrischen Etwas machten, hatte er schöne braune Augen und eine glatte, makellose Denkerstirn. Ein großes Kind steckte in seinen neugierigen Blicken.
    „Auf der Reise?“, fragte Frederik. Eben erst hatten sie in einem unnötig langen Dialog geklärt, dass es draußen ziemlich heiß und hier drinnen ziemlich kühl war – eine Klimaanlage atmete eisige Luft in den kleinen Raum.
    „Ja“, erwiderte Artur nach einigem Überlegen.
    „Geschäftlich?“
    „Nicht geschäftlich.“
    Frederik ging unstet hinter der Theke hin und her, obwohl es nicht viel zu tun gab. Seine Bewegungen waren nicht sehr flink, aber ruhelos. Irgendwann fragte Artur, ob diesem Jungen der Laden gehörte. Wohl eher nicht. Die Art, wie er sich in dem handtuchschmalen Raum hinter dem Tresen bewegte, schien eher darauf hinzudeuten, dass er fremd hier war. Er warf ständig Blicke in Richtung Fußboden, als fürchte er, mit den Füßen gegen etwas zu stoßen.
    „Oh nein, ich jobbe hier nur“, erwiderte Frederik. Dass der Gast ihm eine Frage stellte, schien ihn zu freuen. „Ich studiere ... Theaterwissenschaft. Im – warte mal – im zwölften Semester. Du bist kein Student, oder?“
    „Nein.“ Die Antwort kam ihm schnell über die Lippen. Ein paar Tage lang war Artur so etwas Ähnliches wie ein Student gewesen – auf Schloss Falkengrund. Wenn man darüber hinwegsah, dass man ihm verboten hatte, die Seminare zu besuchen, weil ein Mädchen wegen ihm aus dem Fenster gestürzt war, und dass er schon nach ein paar Tagen wegen Mordverdachts im Gefängnis landete – wenn man außerdem davon absah, dass er kaum Kontakte zu jemandem geknüpft hatte, dass er nicht einmal die Zeit gefunden hatte, sich einmal in Ruhe die Bibliothek anzusehen – wenn man von all diesen Dingen absah, konnte man sagen, er sei ein Student gewesen. Er war nicht offiziell immatrikuliert und nicht offiziell exmatrikuliert. Zuerst war er auf Rektor Hottens Einladung hin einfach dort aufgekreuzt ... und am Ende nicht mehr hingegangen.
    „Bist du neu in Stuttgart?“
    Diese Frage traf ins Schwarze. Seit dem Moment, an dem er seinen Schutzengel zurückbekommen hatte, hatte ihn nichts mehr im Schwarzwald gehalten. Die Landeshauptstadt hatte ihn angezogen. Seit zwei Tagen hielt er sich hier auf, nächtigte in einer billigen Pension. Er war gekommen, weil hier viele Menschen waren. Nicht, um Freunde zu suchen. Das hatte er aufgegeben. Menschen wie er waren vermutlich zu Einzelgängern geboren – sie fanden keine Freunde. Aber es verlangte ihn nach neuen Eindrücken, Informationen. Vielleicht gab es unter den 700.000 Einwohnern der Metropole am Neckar einen, der ihm helfen konnte. Helfen, das wiederzubekommen, was ihm gehörte. Oder zu verstehen, warum er es verloren hatte und wie er ohne
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